Genéviève de Belville blickte überrascht auf, als sie ihre Tochter so ungeniert seufzen hörte. Vermutlich langweilte sie sich einmal wieder. Sie selbst war dabei, mit geschickten Fingern den Faden vom Rocken zu ziehen. Ein wenig abseits von ihr schoben der Graf und sein ältester Sohn Maurice die elfenbeingeschnitzten Figuren des Schachspiels übers Brett, das ihnen im letzten Sommer ein spanischer Händler über Umwege aus Syrien mitgebracht hatte. Schach, so fand der Schloßherr, war bei solchen tagelangen Unwettern der beste Zeitvertreib. Sein Sohn Maurice hatte die Regeln des strategischen Spiels schnell begriffen, so daß dem Vater ein nicht gerade ebenbürtiger Gegner, aber immerhin jemand gegenübersaß, mit dem es sich zu spielen lohnte. Auch Jeanne hatte anfangs mehrmals darum ersucht, daß ihr jemand die unterschiedlichen Züge der Figuren erklärte, aber ihr strenger Vater hatte dies jedesmal mit den Worten abgelehnt, daß Gott für Mädchen und Frauen nun mal das Spinnen und Weben geschaffen habe und für Männer eben anderes. Jeanne hatte daraufhin ihre Mundwinkel verzogen und immer wieder gequengelt, sie doch ins Schachspiel einzuweihen. Aber ihr Vater war unerbittlich geblieben. Den Faden vom Rocken zu ziehen, wie es ihr ihre Mutter an jedem Abend vormachte, danach stand ihr nicht der Sinn. Sie hoffte, daß bald der Frühling ins Land einzog, damit sie wieder ins Freie konnte, auch deshalb, um auf Bäume zu klettern, wo sie in einer Astgabel ungestört träumen und nachdenken konnte, während Amélie sie ganz woanders suchte.
Jeannes Mutter schaute nachdenklich zu ihren beiden Männern hin und dachte an ihren Zweitältesten. Ihr Stiefsohn Thomas war mit einem häßlichen Klumpfuß geboren worden, der ihn äußerlich zu einem Krüppel machte. Im letzten Jahr hatte der Bischof von Nantes dafür Sorge getragen, daß Thomas, der ohnehin dem geistlichen Stand von jeher nicht abgeneigt gewesen war, im Kloster von St. Gildas-de-Rhuys als Novize aufgenommen wurde. Thomas war zwar gerade mal fünfzehn Jahre alt, aber die Klosterbrüder hatten sich der Empfehlung des Bischofs nicht widersetzen können. Genéviève de Belville war froh darüber, daß ihrem Sohn auf diese Weise eine Heirat erspart blieb. Man hätte andernfalls der Familie der Braut eine nicht unerhebliche Mitgift andienen müssen, wobei auch damit immer noch nicht sichergestellt war, ob für Thomas überhaupt eine standesgemäße Heirat in Frage gekommen wäre. Denn Maurice, Liebling ihres Mannes, würde einmal, wenn es soweit war, Namen und Besitz derer von Belville erben. Für Thomas selbst würde dann nur ein relativ kleiner Teil des elterlichen Vermögens bereitstehen.
Ihre Tochter Jeanne starrte noch immer ins prasselnde Feuer, lauschte dem Knacken des trockenen Holzes und träumte vor sich hin. Auch die Zukunft ihres einzigen leiblichen Kindes war gesichert. Jean III. hatte erreicht, daß die beiden bis dahin verfeindeten Familien endlich Frieden schlossen. Ein des langen und breiten ausgehandelter Vertrag sah vor, daß Olivier de Clisson und Jeanne de Belville an Jeannes sechzehntem Geburtstag heirateten. Die beiden hatten sich bislang noch nicht gesehen, was nicht unüblich war. Um die Heirat perfekt zu machen, hatte Maurice dem Grafen Guillaume de Clisson seinen Wald beim Weiler Paimpont – Brocéliande – schweren Herzens angeboten. Erst bei diesem verlockenden Angebot hatte der alte Fuchs aus Nantes angebissen. Denn auch ihm ging nichts über eine gute Jagd, und je besser das Revier dafür war, um so größer die Freuden einer solchen Jagd. Maurice de Belville hatte sich zuletzt doch noch dazu durchgerungen, das alte Erbe seiner Familie an die Clissons abzutreten. Die letzten fünf Jahre hatten deutlich gezeigt, daß es um die Selbständigkeit der Bretagne immer schlechter bestellt war. Seit neuestem machten auch die Engländer Ansprüche auf sie geltend, wodurch die Bretagne zum ›Zankapfel‹ zwischen England und Frankreich geworden war. Herzog Jean hatte in einer Versammlung, bei der alle bedeutenden Häuser des Landes vertreten waren, warnend die Hand gehoben und erklärt, daß nun Gefahr bestand, daß ihre Heimat zwischen den beiden Mächten zerrieben würde. Fest stand aber auch, daß man sich nicht gleichzeitig mit den Engländern und den Franzosen anlegen konnte. Somit wurde es um so wichtiger, daß alle Adelshäuser der Bretagne zusammenhielten wie ein Mann. Nur so konnte man der drohenden Gefahr einigermaßen trotzen. Aber schon hatten sich einige Familien berechnend auf die eine oder andere Seite geschlagen. Jean III. sah durch die unvorteilhafte Lage äußerst schwierige Zeiten auf sie alle zukommen. Besser hätte es dem Herzog gefallen, wenn sich alle einstimmig für England gegen die Franzosen ausgesprochen hätten. Aber ein solcher Konsens schien unmöglich, weil uralte Eifersüchteleien, eitle Kämpfe um die Vorherrschaft und böse Intrigen untereinander nach wie vor zu groß und an der Tagesordnung waren.
Die Gräfin spann noch immer gedankenverloren ihre Wolle und beobachtete dabei aus den Augenwinkeln heraus ihre Familie. Ganz besonders aber Jeanne, die jetzt, ihrem angestrengten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, über irgend etwas zu brüten schien. Ihre Tochter konnte mitunter recht anstrengend sein. Auch schien sie leider Gottes das mitunter unbeherrschte Wesen ihres Vaters geerbt zu haben, das sich zuweilen bis zur Rachsucht steigern konnte. Wenn jemand Maurice übel aufgestoßen war, dann mußte sich dieser jemand in acht nehmen. Noch viele Jahre später konnte ihr Gemahl Menschen, die ihm einmal quer gekommen waren, für ihr Verhalten bestrafen. Und Jeanne schien diesen schlechten Charakterzug von ihm geerbt zu haben.
Genéviève erinnerte sich an ein Ereignis aus dem letzten Sommer. Jeanne hatte von einem Pilger, der unterwegs nach Santiago de Compostela gewesen war, einen kleinen Hund geschenkt bekommen, der ihm unterwegs zugelaufen war. Der Pilger, ein Mann aus Bremen, der eine Tunika aus einfachem Grobgarn trug mit zerschnittenem Saum und am Tor um Speise und Trank gebeten hatte, war spätnachmittags ins Schloß gebeten worden, weil er so vorzüglich auf der Flöte spielen konnte. Maurice hatte ihm im Innenhof dabei zugehört und daraufhin beschlossen, den Ausländer für den Abend einzuladen, um bei ihnen am Tisch aufzuspielen. Der Mann – er nannte sich von Renckenberg – hatte eingewilligt und ihnen allen einen unvergeßlichen Abend mit Melodien geschenkt, wie sie in seiner Heimatstadt Bremen zur Zeit Mode waren. Auch die Kinder hatten seinem Spiel begeistert zugehört. Draußen im Hof, bellte fast die ganze Zeit über ein kleiner struppiger Hund. Es stellte sich jedoch heraus, daß er dem Deutschen gehörte.
»Wenn du magst, dann schenke ich ihn dir, Jeanne?«
Die Augen ihrer Tochter hatten geleuchtet wie die Sterne im Mai, wenn der Nachthimmel meist von Wolken leergefegt ist.
»Ist das wahr?« hatte Jeanne begeistert ausgerufen und ihren Vater bittend angeschaut.
Maurice hatte gnädig genickt, denn eigentlich mochte er keine Hunde bei sich im Schloß, die so klein waren, daß sie unter einem Hocker Platz fanden. Aber er wollte den Gast nicht vor den Kopf stoßen. Dieser hatte ihm zwar später mitgeteilt, daß es nicht sein Hund wäre, den er da verschenkt habe, sondern daß dieser ihm auf seinem Weg einfach nachgefolgt sei. Daraufhin mußte, so jedenfalls reimte es sich die Gräfin zusammen, Maurice im stillen beschlossen haben, den Hund, sobald der Mann wieder abgereist war, vom Schloßhof entfernen zu lassen. Dies geschah ein paar Tage später.
Bis dahin hatte sich Jeanne fast schon rührend um das kleine springlebendige Wollknäuel gekümmert. Sie hatte sich in das Tier so richtig verliebt. Jeder hatte es sehen können. Und dann eines Morgens kam der furchtbare Moment, wo das Mädchen den kleinen Hund nirgendwo mehr auffinden konnte. Gaston, der Stallknecht, den Maurice immer für bestimmte schmutzige Fälle einsetzte, hatte das Tier auf seinen Befehl hin beseitigt. Dies war von einer Magd, die nicht wußte, daß die Anweisung vom Schloßherrn persönlich gekommen war, beobachtet worden. Sie führte Jeanne an die Stelle, wo Gaston das Tier mit einem Knüppel erschlagen hatte. Jeanne schrie unter Tränen auf und rannte zurück ins Schloß. Dabei begegnete sie unterwegs dem schiefäugigen Gaston.
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