»Vielleicht liegst du gar nicht mal so falsch!«
Pierre le Rouge sah den Kapitän mit großen Augen an.
»Wie meinst du das? Wer ist diese Frau? Warum verrätst du mir ihren Namen nicht?«
»Ich darf es nicht, leider, mein Freund.«
In diesem Augenblick nähert sich die Frau den beiden Männern. Ungläubig bemerkt Pierre le Rouge, daß sie trotz des Seegangs nicht einmal hin und her schwankt, geschweige denn irgendwelche Anzeichen von Furcht erkennen läßt. Als ob sie es gewöhnt sei, bei Sturm auf Deck herumzuspazieren.
»Ich danke euch beiden tapferen Männern. Dank dafür, daß ihr mich und meine Kinder wohlbehütet zurück in meine Heimat gebracht habt.«
Dann wendet sich die schlanke und hochgewachsene Frau direkt Pierre zu. Ein Lächeln umspielt ihre schmalen Lippen. Der Mann errötet unter ihrem Blick.
»Roland de Raz weiß, wer ich bin. Er kennt mich seit vielen Jahren. Ihm ist auch bewußt, daß er sich in große Gefahr begeben hat, nur weil er mir hilft, den Franzosen zu entkommen. Aber es schien mir am sichersten, wenn so wenige wie möglich von meiner Rückkehr wüßten. Ich bin die letzten Jahre fast ausschließlich nur auf See gewesen.«
Pierre le Rouge schluckt und reißt die Augen weit auf. Es gibt im Umkreis von tausend Kilometern nur eine einzige Frau, die dies von sich behaupten kann. War es denn möglich, daß ...
Die Frau nickt ihm bestätigend zu.
»Ja, ich bin Jeanne de Clisson. Du hast dein Leben für mich aufs Spiel gesetzt und verdienst es deshalb zu erfahren, für wen du es getan hast. Nochmals Dank dafür!«
Sie dreht sich um und geht langsam und stolzen Schrittes zu ihren beiden Kindern zurück, die geduldig vorne im Boot auf ihre Mutter gewartet haben. Die zwei Männer sehen ihr nach.
»Was wird sie daheim erwarten, sie, die soviel für unser Land getan hat?«
Es ist Roland de Raz, der dies fragt.
»Der König hat alle ihre Güter konfisziert. Jeder, der ihr hilft, soll des Todes sein. Ihren Mann hat er hinrichten lassen und seinen Kopf zur Abschreckung in Nantes über das Stadttor gehängt. Jeanne de Clisson besitzt nichts mehr außer ihrem Leben und ihren Kindern.«
»Du kennst diese Frau?«
Pierre le Rouge nickt.
»Wer in der Bretagne kennt ihren ruhmreichen Namen nicht? Jedes Kind kann davon erzählen, was sie für uns alle geleistet hat.«
»Ihr Kampf ist noch lange nicht vorbei. Und sie ist noch so jung!«
»Aber sie wirkt bereits, als hätte sie die Erfahrung eines langen, gefährlichen Lebens hinter sich.«
»Die königlichen Blois werden nicht eher Ruhe geben, bis sie Jeanne erfolgreich gejagt, verurteilt und enthauptet haben.«
»Meine Hilfe hat sie uneingeschränkt«, verspricht Pierre. »Wann immer sie mich ruft, ich werde da sein!«
Nur so hat sie überhaupt all die Jahre überleben können, denkt der Kapitän. Indem sie Männer wie Pierre für sich einnahm und so sehr begeisterte, daß sie von da an alles für sie taten. Er selbst nimmt sich davon nicht aus. Hätte er sonst diese gefährliche Überfahrt auf sich genommen? Aber das Leben von Jeanne de Clisson – oder Madame, wie die Franzosen sie respektvoll nennen – ist nicht immer so gefahrenreich verlaufen. Sie wurde als Adelige geboren und stammte aus reichem Hause. Jeanne hatte es sich keineswegs ausgesucht, als gefürchtete Piratin und Rebellin zu enden. Es war ihr vielmehr von einem ungnädigen und harten Schicksal aufgedrängt worden.
»Jeanne! Kleines! Du benimmst dich mal wieder unmöglich! Mädchen klettern nicht wie Jungen auf Bäume. Mädchen sind sittsam und versuchen nicht aufzufallen. Steig also sofort herunter und bemüh dich endlich, wie eine kleine Dame zu sein! Im übrigen wird deine Mutter furchtbar schimpfen, wenn sie erfährt, in welche Gefahr du dich begeben hast.«
Amélie, die ältliche Zofe der jungen Grafentochter, seufzte laut, und wischte sich den Schweiß von der Stirn, weil sie auch einen möglichen Tadel durch ihre Herrin fürchtete: Genéviève de Belville. Die Gräfin hatte ihr besonderes Augenmerk auf ihre Tochter gelegt, nachdem sich bewahrheitet hatte, daß es ihr einziges Kind bleiben sollte. Nicht auszudenken, wenn dem Mädchen bei seinen waghalsigen Klettereien etwas zustieße. Aber seit den Tagen, als sie laufen gelernt hatte, gebärdete sich Jeanne wie ein Wildfang: immer ungestüm und ständig auf und davon laufen, wenn man sie bloß einen Moment lang aus den Augen ließ. Man hätte die Kleine schon wie einen Bluthund an die Leine legen müssen, um sie unter Kontrolle zu halten. Da hatte es die Zofe mit ihren zwei Halbbrüdern Maurice und Thomas erheblich leichter, stellten diese sie doch vor weitaus weniger Schwierigkeiten, sie zu beaufsichtigen. Was bei zwei halbwüchsigen Jungen schon wiederum ungewöhnlich war. Die Mutter von Thomas und Maurice war vor Jahren überraschend am Blutfluß im Kindsbett gestorben. Plötzlich knackte es bedrohlich über dem Kopf der Zofe.
Entsetzt sah die Frau, wie sorglos Jeanne auf den Ästen herumhangelte. Dabei grinste die Kleine sie auch noch frech an:
»Mach den Mund zu! Ich fall schon nicht runter, Amélie! Ich kann klettern wie eine Katze, das sieht doch jeder!«
Und ob sie das sah! Aber es entsprach keinesfalls dem guten Ton. Daß Mädchen sich nicht so benehmen wie Jungen, war etwas, was man der Kleinen einfach nicht klarmachen konnte. Es schien beinahe so aussichtslos, als wollte man eine Katze vom Nesträubern abbringen. Amélie seufzte erneut. Aus Jeanne sollte einmal eine große Dame werden. Vielleicht sogar jemand, den der zukünftige Herzog der Bretagne zur Frau nehmen würde. Denn Jeanne war hübsch und verfügte bereits als Siebenjährige über einen ziemlich einnehmenden Charme. Außerdem stammte sie aus den besten Kreisen der Bretagne.
»Ist ja schon gut, Amélie. Du ziehst ein Gesicht wie ein Wolf, der in ein Eisen getappt ist. Bevor du auch noch wie er zu heulen anfängst, klettere ich lieber wieder zu dir herunter.«
Amélie verzog genervt die Mundwinkel nach unten. Jeanne hatte sich ihrer also erbarmt. Bei der seligen Jungfrau Maria, das konnte ja noch heiter werden, wenn das Mädchen älter wurde! Vermutlich hing dann alles nur noch von ihrem Wohlwollen ab. Und wer, bitte, sollte sie dann vernünftig erziehen? Sie jedenfalls würde es sich nicht zutrauen. Jeanne blieb unberechenbar.
Das Mädchen rutschte den unteren Teil des Baumstammes behende herab, wobei sie sich geschickt mit beiden Händen festhielt. Daß sie keine Angst hat, sich dabei weh zu tun, wunderte sich die Zofe.
»So! Da bin ich! Freust du dich?«
Jeanne blickte zu der Frau vor ihr auf, und dies mit einer Unschuldsmiene, als ob sie kein Wässerchen trüben könnte.
Ich kapituliere, dachte Amélie, die bereits einige Kinder hatte aufwachsen sehen. Keines von ihnen war so selbstbewußt wie Jeanne gewesen.
»So? Und was machen wir jetzt? Willst du mich etwa mit Tischsitten langweilen oder mit Verhaltensregeln, wie sie nur Erwachsene für gut finden können?«
Die Zofe schwieg und rieb sich durch die müden Augen. Dann sagte sie: »Wir beide gehen jetzt langsamen Schrittes zurück ins Schloß. Es ist bald Tischzeit, und außerdem glaube ich gehört zu haben, daß Herzog Jean heute zu Besuch kommt.«
Diesmal war es an Jeanne, sprachlos mit offenem Mund dazustehen. Aber nur kurz.
»Onkel Jean kommt zu uns? Heute? Au fein!«
Sie spurtete davon.
»Aber ich habe doch gebeten, langsamen Schrittes ...«
Amélie erhielt keine Antwort. Sie sah das Mädchen über die Wiese zu den breiten Stufen eilen, die zurück ins elterliche Schloß führten. Wenn Onkel Jean kam, der mächtige Herzog der Bretagne, dann gab es für Jeanne kein Halten mehr. Er wäre außer ihrem Vater im übrigen der einzige gewesen, der sie von irgend etwas hätte abhalten können. Onkel Jean, der nach Meinung des Mädchens Belville viel zu selten einen Besuch abstattete, liebte die Kleine nun einmal abgöttisch.
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