Er schien das ziemlich genau zu wissen, eigentlich eine Unverschämtheit, aber er kam tatsächlich in Betracht, er war kein alternder Sprinter mit sechs Weltrekorden, kein Prinz mit abgegoldetem Wappen, keine fusionslüsterne Konkurrenz. Konnte man ihm vielleicht diese geräuschvolle und aufdringliche Lustigkeit abgewöhnen, dieses grässliche „Tjä hahi“ und die knarrenden Doppelsohlen?
Loie hatte einen jämmerlichen Tag. Beim Aufräumen und bei Reisevorbereitungen machte man gern Bilanz: ein Leben ohne jeden Inhalt, nichtsnutzig, pompös wie eine falsche Tausend-Gulden-Note. In drei Tagen Abmarsch zum Nordkap, mit der weissen Jacht in einem Schwarm nahezu fremder Menschen, immer andere, immer anderswohin. Aber der eigene Schatten ging mit auf die Fahrt ... Da stand zu wenig im Mittelpunkt, es stand zuviel herum in diesem Leben. In Wirklichkeit bettelte das Herz nur um ein ganz kleines bisschen ehrlicher Liebe. Und natürlich musste man ihm die kleinen Mädchen abgewöhnen — meinetwegen pfundweise, aber bitte unter Ausschluss der Öffentlichkeit, und für das Essen ist meine Köchin da, ich will einen Mann haben und keinen Hampelmann ...
Wir fragen uns betroffen, was unter diesen Voraussetzungen von Hutton Price eigentlich übrigbleiben sollte, zumal Loie sich schon jetzt vornahm, ihn unter Diät zu stellen, ihm sozusagen das Fett pfundweise vom Leibe zu stehlen. Aber jedenfalls: gerade weil sie nie an diese Möglichkeit gedacht hatte, war sie überrumpelt. Sie war entzückt, dass es etwas gab, das man hätscheln und erziehen konnte, und einen ärgeren Hieb konnte sie ihrem Onkel Edward nicht verpassen! Loie war in ihren berühmten blitzschnellen Entschlüssen also wieder einmal bereit, blindlings „ja“ zu sagen.
Als Bob mit einer Stunde Verspätung in Bloemendaal erschien, brachte er einen riesengrossen Busch schneeweisser Nelken mit. Er verfügte über eine dermassen geringe Blumenphantasie, dass er ohne Ansehen der Person stets und ausnahmslos weisse Nelken präsentierte. Schon seit geraumer Zeit waren die jungen Mädchen Amsterdams oder New Yorks, sofern sie auf ihren Ruf Wert legten, zu einer schleunigen Beseitigung weisser Nelkensträusse gezwungen, von welchem unglücklichen Verehrer sie solche Spende auch empfangen haben mochten. Dies wusste Bob ganz genau.
Also was ihm fernerhin mit sofortiger Wirkung abzugewöhnen war: das Zuspätkommen — die weissen Nelken ...
Sofort herrschte Leben und Betrieb, Gelächter, ein spitzes Hin- und Herreden. Aber da er nun vorhanden, sehr leibhaftig — wo war die kleine, süsse Erwartung geblieben, die ihn vor einer Stunde noch herbeirief?
„Jawohl, ich habe deinen Mann in New York gesehen, Blanche, gestern beim Oberst, dein Gaston machte den kummervollen und verlassenen Eindruck echter Sehnsucht, wir haben versucht, ihn mit einer — äh, mit einer kleinen Tänzerin aufzutauen, Pasquali hat derlei immer auf Lager, oder sagen wir besser: auf Vorrat, aber Monsieur liess sich nicht trösten, hahi, was sagst du, Monsieur schickt ein Paket zärtlicher Grüsse durch mich Unwürdigen.“
Die junge Frau, bisher still und erloschen, strahlte auf. Na also. Wir sind eine edle Seele! Aber Bob hatte eine ekelhafte Regung dabei.
Loie spürte den falschen Ton hinter der wohlgemeinten Schwindelei. Bob war echt. Aber jetzt, auf Armeslänge von ihr, mit vollen Backen kauend — jetzt wehrte sich in Loie alles gegen ihn und gegen seine faustdicke Lebendigkeit. In den frühen Erinnerungen erschien Hutton Price, Pappi und Mammi hatten sie in der Kinderstube gespielt, er hatte seine Schularbeiten von ihr abgeschrieben, tatsächlich gab sie ihm ihren und seinen ersten Kuss, er war ein notwendiger und nicht wegzudenkender Bestandteil ihres Lebens. Das Dasein mit ihm würde eine garantiert fidele Angelegenheit, aber es hiess auch eine Absage an alles Wilde und betäubend Mächtige.
So kam es, dass Loie sich bis an die Grenze der Unhöflichkeit wehrte, als Hutton Price sie nach Tisch, man war kaum aufgestanden, in ein Nebenzimmer führen wollte. Aber wehr dich mal gegen solche selbstzufriedene Sicherheit, die schlimmstenfalls hier, vor drei Zeugen, einen Antrag von Stapel lässt.
Das Nebenzimmer, in das sie ihm erzürnt und belustigt folgte, war ein ziemlich grosser Musikraum, auch zum Tanzen geeignet, mit Flügel und Grammophon, gelbseidene Tapeten, in allen vier Ecken bronzene Leuchter. Bob musterte, die Hand auf Loies Arm, in seiner beliebten, erflunkerten Sachlichkeit den Ort und erklärte ihn als Schlachtfeld einer zärtlichen Unterredung wenig geeignet. Ja, wenn seine Stimme nur ein wenig gezittert hätte, vor solcher Entscheidung — Loie suchte in seinem Benehmen ein Bangen, die Angst eines Verliebten. Aber er machte schlechte Witze und zog es vor, sich selbst zu fälschen: dies blaue Tee-zimmerchen hier, seidig, kosig, es fände seinen Beifall als stimmungsvoller Hintergrund, ehem, fangen wir an! „Kleopatra würde in diesem Fall — —“
„Ich weiss schon, Bob“, unterbrach Loie ihn, sich an das Marmorgesims des Kamins lehnend, „gibt es eigentlich eine Frau um dich herum, der du noch keine Liebeserklärung gemacht hast?“
Er meinte vergnügt: „Das trifft sich ausgezeichnet. Wir wollen Blanche hereinrufen, mit der stehe ich seit fünf Jahren auf Kuss und Du, aber eine Liebeserklärung, nicht im mindesten, da hast du schon eine rühmliche Ausnahme.“
„Eine Gegenfrage Bob: wenn du schon mit solchen Absichten kommst, hast du dich kasteiet, hast du dich aufgespart, hast du dich zu Tode gesehnt — oder wann hast du das letztemal eine Frau geküsst? Aber ehrlich, bitte!“
„Als ob ich je schwindeln würde, süsse Loie. Im Gegenteil, ich übertreibe meine Untugenden geflissentlich. Das letztemal? Tjä hahi. Gestern war ein gemütlicher Abend bei Pasquali, ich habe dir ja erzählt, wie es da zugeht. Man kann nämlich küssen, Loie, aus allgemeiner Weltbegeisterung, schwach erotisch.“ Seine Lackstiefel glänzten spöttisch, er konnte nichts dafür, er war die fleischgewordene Posse. Ich bekomme sie bestimmt nicht, sagte er sich, ausgeschlossen und nie, ich verplempere mich an der ganzen süssen Bande!
Und während Loie zärtlich seine wider Willen grinsenden Wangen tätschelte, führte sie ihn sanft durch den Teeraum zu den andern zurück, wobei er erklärte, er bäte seinen nicht gemachten Antrag zu retournieren.
Gegen Ende eines regnerischen Septembers kam der Berichter der „New York Times“, Herr Giles, abends zum Oberst Pasquali herausgefahren, nach einer zehntägigen Abwesenheit. Giles schlug seine Jobbermütze an den Haken und ging höchst übelgelaunt zu Pasquali herein, der einer seiner Sekretärinnen ernsthaft diktierte. Eine grosse Tigerdogge erhob sich knurrend vom Teppich. — „Du hast mir auf die Redaktion eine Nachricht geschickt, ich möchte gleich nach der Heimkehr zu dir kommen. Was ist los, was für eine Pappsensation hast du wieder auf Vorrat?“
Pasquali schob in guter Laune einen Stoss von Briefen und Anordnungen beiseite und erkundigte sich teilnahmsvoll nach Giles’ Ergehen.
In den vergangenen Wochen hatte Giles mit vielen Pressevertretern am „Einfliegen“ einer neuen Linie teilgenommen, London—Sidney, neunzehntausend schnurgerade Meilen mit Zwischenlandung in Kalkutta. Ist das etwa nichts Besonderes? Der Australienschweber, mit Kabinen für dreihundert Fluggäste, besass die allermodernsten Einrichtungen für die Fernsteuerung, neue Erfindungen spielten Katze und Maus, und endlich gelang es dem tätigen Menschengeist, das gänzlich anonyme und mechanische Verkehrsmittel zu verwirklichen, die Sehnsucht eines Jahrhunderts. Dazu waren wochenlange Vorbereitungen nötig gewesen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit steuerten Feuereissen und Hutton Price den neuen A 3348 im Handbetrieb zwanzigmal über die Strecke, in riesigen, besonnten, sturmfreien Höhen, und selbstverständlich mit Rekordgeschwindigkeiten. Dann war es so weit, dann hatten die Fernsteuerungsmaschinen in Konstantinopel, Kalkutta, auf den Philippinen und in Sidney sich mathematisch eingestellt, die Öffentlichkeit wurde zugelassen und die Flieger verliessen ihre Zelle. Denn dieser neue Gigant raste ohne jede menschliche Führung durch die eisige Höhe, und zwanzig Minuten vor jeder Landung wurden die Flieger durch Klingelzeichen benachrichtigt, dass der A 3348 zwar nicht ihre Hilfe, aber doch ihre Aufmerksamkeit für das Niedergehen in Anspruch zu nehmen wünschte. Sie also, denen der Ruhm des Ikarus noch zwischen den Schultern brannte, ein vergilbter Ruhm, sie konnten schlafen, lesen, Karten spielen, mit den weiblichen Fluggästen äugeln, nach Belieben und wie es ihnen passte, der Australienschweber jedenfalls bedurfte ihrer Mitwirkung nicht. Drunten in der gähnenden Tiefe rollte die Erde vorbei oder die grellen Flächen unendlicher Wolken. Es war erreicht, es war restlos gelungen, dem fliegenden Business c) jegliche Romantik auszutreiben.
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