So erzählte Giles. Der Oberst rieb die Handflächen aneinander und klopfte dem Freund auf die Schulter. „Du hast ganz recht. Es ist ein Grundsatz, Lieber. Werde Normalmensch! Die Zivilisation ist eine Hängematte, rings um die ganze verwendbare Erde. Wir knüpfen das Netz immer enger, immer feiner — warum und weshalb, das weiss ich auch nicht. Simson, das technische Jahrtausend ist über dir! Aber ist es nicht grossartig schön, dass ein Arbeiter genau so gut angezogen ist wie ein reicher Mann, du kannst eine Prinzessin von meiner Tippmamsell nur unterscheiden, wenn du sehr genaue Studien an derartigen liebenswürdigen Objekten betreibst, und die ganze Kruste quälender, schlecht riechender Armut wird von diesem rotierenden Kuchenteller langsam heruntergeputzt. Darum geht es, das ist vielleicht auch ein Sinn, so gut und vielleicht besser als die Tempel in Europa und Asien.“
Der Grog kam. „Wir werden philosophisch“, sagte Giles und baute sich bequem in den grünledernen Klubsessel ein, „da ich aber weder arm noch gequält bin, so hoffe ich, noch schlecht rieche, so vollzieht sich diese Entwicklung gegen mich. Ich möchte von meinem kurzen und vergnügten Dasein etwas haben, was ich leider nicht mit jedermann teilen kann, weil nicht jeder dafür Verständnis aufbringt. So geht es mir. So geht es Feuereissen. Hutton Price hat sich über die neuen Errungenschaften dermassen ausfallend geäussert, dass die gelehrige Kleopatra künftig nur einem Herrenpublikum vorgeführt werden kann.“
Pasquali lachte und liess die Hand über den Kopf seiner Dogge streichen. „Ich glaube, Giles, für drei Monate kann dir und deinesgleichen geholfen werden.“
Der Oberst zeigte über seinen Schreibtisch, der mit Papieren bedeckt war. In den Kreisen der OAW war ein Plan aufgetaucht, künftig zu günstiger Jahreszeit Erholungsflüge über die Polargebiete zu veranstalten. Zunächst handelte es sich darum, dass eine Flugexpedition im nächsten Südpolsommer die meteorologischen und erdmagnetischen Bedingungen der Antarktis erforschen sollte. Das Unternehmen stand vor unbekannten Bedingungen, einige Rekordflüge im vergangenen Jahrzehnt brachten nur spärliche Aufklärung. Man war auf Vermutungen angewiesen, wie sich die drahtlose Kraftübertragung dort bewährte. Auf jeden Fall griff Pasquali die Anregung auf, es bot sich eine seltene Gelegenheit, erprobten Verkehrsfliegern Abwechslung von ihrem immer gleichen, eintönigen Dienst zu bieten. „Machst du mit, Giles? Ich habe Feuereissen und Bob heute nachmittag über Persien drahtlos erwischt, sie heulten vor Begeisterung. Für drei Monate bist du ein Held!“
Denn so lange sollten die Forscher sich im ewigen Eise aufhalten, drei Monate des Polartages, an dem die Sonne schräg oben ein bisschen rund um den Himmel wanderte, neunzig Tage mit Pelz, Büchse und Filmapparat. Abends, was dort so Abend hiess, einen heissen Grog im geheizten Flugzeug, Tanzmusik aus London und jeden Mittag einen bangen Anruf aus der bewohnten Welt: Lebst du immer noch, Geliebter, ich habe solche Sorge, dass du dich erkältest ...
„Hm“, machte Giles, „wenn du einen andern Tintenbullen ausser mir zulässt, Pasquali, dann erwürge ich dich mit meinem Zeigefinger. Über die Stange Gold kannst du dich mit meinem Chef unterhalten. Das ist ein feines Vorhaben. Abenteurer auf Zeit, mit dem Rückzugsbillett in der Tasche, und wenn die Pioniere das Feld räumen, rückt das Kapital an.“
„Was übrigens von jeher so gewesen ist, Giles.“
Der Berichter schwärmte schon mit rollenden Augen. „Das gibt mal endlich wieder bildschöne Filmchen! Die Welt im Licht, naturweisse Woche, ich wette: wenn mein Polfilm in den Kinos läuft, muss der Normalmensch Schneebrillen aufsetzen. Herrlich. Das machen die natürlich später in fliegenden Sanatorien mit Glasdach, Aussichtsraum und therapeutischer Behandlung. Bordarzt, Bordgeistlicher, alles da. Was noch? An dieser Stelle da unten, jawohl meine Dame, gerade da, wo der Eisbär steht, nein, mein Herr, ich glaube nicht, dass der Bär eine Atrappe ist, erfror vor vielen Jahrzehnten der berühmte Südpolforscher Ix Ypsilon, Ober, stellen Sie die Heizung ein halbes Grad höher, die Herrschaften frösteln ...“
In einer windgeschützten Korallenbucht des Feuerlandes — sie führte den verheissenden Namen Buen Suceso — wo die Wellen des Atlantik eilig meerwärts liefen, erfolgte Mitte November der Start. An der Sache war weiter nichts Besonderes; heutzutage brauchten die Schweber sich nicht mehr mit Betriebsstoff zu belasten, da der drahtlose Starkstrom sogar bis zum Mond hinauf, wenn sie dorthin hätten fliegen können, unausgesetzt hinter ihnen dreinlief.
Der Zehntonnen-Schweber, der die Antarktis zugunsten der praktischen Vernunft aus ihrem bisher ewigen Schlummer reissen sollte, war mit jeglicher Bequemlichkeit ausgerüstet, die für anspruchsvolle Menschen der Zeit zur Ertragung einer monatelangen Trennung von der übrigen Menschheit genügte. Der „Eisvogel“ besass sechs starke Elektromotoren und konnte auf dem Wasser, auf dem Eis wie auf dem festen Land aufsteigen und niedergehen. Diese modernen Polarforscher konnten sich in ihr elektrisch geheiztes Haus zurückziehen, falls es draussen zu ungemütlich werden sollte. Für die Mussestunden standen hundert der spannendsten Kriminalromane zur Verfügung. Die Forscher konnten den durchfrorenen irdischen Leib in einer Badewanne erquicken, die je einen Hahn für warmes und kaltes Wasser besass. Unvermeidlich war, dass man sich alle paar Tage einige Eisblöcke auftauen musste, je nachdem der Reinlichkeitsfanatismus sich auf tägliches Bad ausdehnte oder auf einfaches Rasieren beschränkt blieb.
Um diesem üppigen Unternehmen einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben, wurde eine geologische Autorität mitgenommen, Monsigny mit Namen, ein kleiner, unfreundlicher, überaus pedantischer Herr aus Chikago, der sehr bald feststellen musste, dass er eigentlich nur zur Verzierung diente. Als einziger Reporter war Giles dabei mit seinem spitzen Vogelgesicht, er hatte schon zahllose Expeditionen in sämtliche noch leidlich unzivilisierten Gegenden der Erde mitgemacht und in Wort und Film verherrlicht. Er bekam einen Filmapparat und fünfzigtausend Meter Negativ mit und sollte derartige Lichtfluten in die Kamera bannen, dass ein Schrei über den Erdball hallen würde: Auf ins ewige Eis mit Vergnügungsschwebern der OAW! Den Pol sehen — und sterben.
Alles Reklame ...
Reklame war auch der Neger Jim, den man telegraphisch vom Urlaub geholt hatte, mit Kleopatra, versteht sich. Jim war ohne den geringsten Zweifel der erste Nigger, der je das weisse Land betrat. Da er sich für alle Dienste gleich gut eignete und mit seinem schwarzen Gaunergesicht eine unschätzbare Werbung für die filmische Ausbeute des Unternehmens bot — man bedenke ein Bild — Jim zerhackt einen Eisblock für die Warmwasserversorgung! — so konnte auf seine doppeltbepelzte Mitwirkung nicht verzichtet werden.
Es war alles da, alles eingefädelt, um das mit grossem Trara aufgezogene Unternehmen in den Blickpunkt zu rücken. Nur die Zeitungen, die von der OAW keine Inserate erhielten, fielen mit bissigem Spott über diesen Südpolflug her: man stelle sich an, als ob man noch in der Benzinzeit lebe, heutzutage, wo ein Polflug nicht gefährlicher war als der Aufenthalt in einem Sanatorium! — Diese Zeitungen machten, ohne es zu wollen, für die Verkehrspläne der OAW die allerbeste Reklame.
Und zu solchem Rummel mussten sich zwei brave Flieger hergeben!
Nur auf die Mitnahme eines weiblichen Wesens verzichtete man nach heftigen Meinungskämpfen, um die Friedensliebe der aus sechs Herren unter vierzig Jahren bestehenden Besatzung keiner allzu schweren Belastungsprobe zu unterziehen.
Nach einer sehr unruhigen Nacht erwachte Loie ziemlich spät am Morgen. Vor ihrem Fenster beschäftigte sich der graue Novembersturm mit den triefenden Lindenästen. Es war nasskalt, und Loie hatte die Grippe.
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