Giles, der jedes Wort verstanden hatte, schob seine Karten von sich, schlug dem jungen Higgins die dritte Partie ab und schlenderte, Hände in den Hosentaschen, in unerlaubt schlechter Haltung zum Rauchsalon hinüber, wo einige ungesellige Leute hinter Zeitungen und Zigarrenqualm ihr Einsamkeitsbedürfnis betonten. Feuereissen sass da, der Deutsche, Kapitän der Ozean Airways Ltd., Pasqualis Mitpilot aus dem Pazifik, ein hervorragender Flieger, aber mürrisch und ohne einen Funken von Humor, einer von den mindestens zwei Jahrhunderte Zuspätgekommenen, die sich auf der bis in das Winkelchen geordneten, verteilten, ausgenutzten und berechneten Erdoberfläche mit spürbarem Missbehagen bewegten. Giles brachte Verständnis auf für diese Art von Menschen; Giles selbst gehörte zu jenen, die alles mit scharfen Randlinien sehen, mit viel Freude an jeglichem Lebendigen, daraus machte er geradezu seinen Beruf. Der Flieger Feuereissen, Zigarre im Mund, zerrte ungeduldig an seiner Uhr, wahrscheinlich war er nur darum hier, um seinen Mitpiloten Hutton Price, eben jenen dicken Bob, Spassmacher, Meisterkoch, Ladieskiller a), aus dem Kreis der immer zahlreichen Freundinnen loszueisen, denn die beiden Flieger führten um halb drei Uhr nachts den Schweber A 3606 nach Europa. Feuereissen und Price herrschten in gewissem Sinne, doch weiss Gott nicht uneingeschränkt, über dies wahre Fabeltier von Flugboot, das fast dreihundert Menschen durch das stürmisch wogende, trotz aller Fortschritte immer noch nicht mit den Eigenschaften einer Sprungfedermatratze ausgepolsterte Luftmeer dahintrug. Dies Ungeheuer übertraf an Spannweite die grössten Ozeanriesen, die man lächerlicherweise immer noch Dampfer schimpfte, obwohl auch sie seit längster Zeit mit drahtlosem Starkstrom betätigt wurden, wie heutzutage jede lausige Dschunke.
Feuereissen kam mit der Uhr in der Hand aus seinem Schmollwinkel hervor, ziemlich gross, sehr gepflegt. „Gut, dass ich da bin“, meinte er überheblich, „Bob vergisst jede Zeit, wenn er mit seinem Harem Parade kocht.“
„Du hast dich nicht gut unterhalten —?“
„Doch, ausgezeichnet! Ich habe mir mit geringer Phantasie ausgemalt, was alles aus dieser schönen Erde hätte werden können, wenn der letzte Ichthyosaurus rechtzeitig den ersten Menschen aufgefressen hätte.“
Sie fanden Hutton Price, unbelastet von den Problemen der enggewordenen Erde, in der grossen Eingangshalle vor, er hockte auf den Knien wie ein Türke, sechs kichernde Damen um ihn, er selbst stopfte einer Wette zufolge mit seidenem Faden den an der Ferse zerrissenen Strumpf eines Mädchens, auf der blanken Haut, prima, erst kreuz, dann quer, ohne zu stechen, ein hübscher Stopfpilz! „Tjä hahi, ihr Mädchen“, begleitete er sich, „fliegen können wir heute vollautomatisch, selbst das Buschweib im — hupp! — im Kaffernkraal heizt den trauten Herd mit drahtlosem Starkstrom — aber zur Liebe gehört immer noch die gleiche — hupp — Intelligenz wie am ersten Schöpfungstage. So ist es. Nehmt Abschied von mir, Kinderchen, ich habe Grosses vor, meine Schulden schreien nach einem Deckhengst, vielmehr nach einer Deckstute, hahi, und ausserdem bin ich bis ins Mark meiner Knochen verliebt.“
Die Damen lachten, dass ihnen das Wasser aus den Augen kugelte. Solche Andeutungen machte er schon den ganzen Abend, kein Mensch glaubte ihm, Hutton Price wäre in unverliebtem Zustand eine unnatürliche Figur gewesen. Niemand konnte ihm etwas nachsagen, er löste seine Wechsel an jedem Quartalsersten in untadeliger Weise ein, indem er alte Schulden mit neuen „deckte“. Unglücklicherweise schwärmte er, zweieinhalb Zentner Lebendgewicht, für die Schlanken und Feinen, nicht erfolglos, aber seine Grazien wühlten nicht im Golde. „Da kommt Feuereissen“, sagte er und deutete mit der Nadel hinüber, „fleischgewordener Einspruch gegen die Überzivilisation, ein armer verhinderter Raubritter. Und da kommt der kleine Spürhund Giles, Haut und Knochen, brrr! Mein Lieber, wenn du auf der Fährte der nächsten Sensation hängst, dann begib dich stehend freihändig mit uns Helden der Lüfte nach Amsterdam. Es tut sich was, es ist etwas in Vorbereitung, dass deine Tinte vor Aufregung eintrocknet. Ich habe sie geküsst, ich, mit diesen vollen Männerlippen — nicht deine Tinte, natürlich, ich habe nämlich — hupp! — bis an den Hals genug von den vollautomatischen Luftdroschken — —“
Das Missgeschick also, da nun davon gesprochen werden muss, ereignete sich schon in der zweiten Flugstunde des A 3606, der mit zweihundertfünfzig zahlenden Gästen am dämmernden Himmel gen Osten raste, meilenhoch über dem Meer. Abgesehen von einem steifen Nordwest herrschten keinerlei ungünstige Vorbedingungen.
Feuereissen, Kommandant und für das Ganze verantwortlich, verliess nach dem von beiden Fliegern gemeinsam vorgenommenen Start die Führerzelle und machte seinen vorschriftsmässigen Rundgang durch das Innere des riesenhaften Schwebers. Der Neger Jim, Faktotum, zu all und jeder Verrichtung brauchbar und zudem persönlicher Diener der Flieger, überbrachte ihm die Liste der Fluggäste. Zu seinem Vergnügen fand Feuereissen einen wohlbekannten Namen, den nämlich des ehrwürdigen Reverenden Mylong, der sich seit Jahren sehr oft in Amsterdam aufhielt, als väterlicher Berater und Freund einer jungen Dame, welche sich einen solchen Luxus leisten konnte. Diese junge Dame ihrerseits stammte aus Fremon, Nebraska, und war eine Schulfreundin des dicken Bob.
Der Reverend war ein menschenfreundlicher und aufgeklärter Vertreter der Christian Sciences und ohne Zaudern bereit, diesem irdischen Jammertal gewisse Verzierungen zu gönnen.
Feuereissen spürte den ehrenwerten Mann auf und traf ihn in dem behaglichen, nach vorn stark gewölbten Frühstücksraum, dessen Boden ganz aus Glas war, durch welches das Meer farbig heraufglitzerte.
„Bleiben Sie in Amsterdam, Reverend?“
„Ich habe die Freude, Kommandant Feuereissen, in den nächsten Wochen Fräulein Loie b) Lux während einer Nordlandreise an Bord ihrer Jacht zu begleiten, immer wohin das unruhige Blut sie treibt. Im Winter wird es vermutlich ans Mittelmeer gehen, sofern sich keine neue Sensation einfindet.“
„Sagen Sie“, rieb Feuereissen sein Kinn, „ist Ihnen etwas davon bekannt, dass Fräulein Lux sich verheiraten will?“
„Was Sie sagen!“ Der Reverend meckerte vergnügt. „Wer ist denn diesmal der Glückliche? Zu verloben pflegt mein Schützling sich ja nicht ganz selten. Aber bisher wurde mir stets Gelegenheit gegeben, mich vorher zu dem Kasus zu äussern.“ Er steckte sich mit den dicken, zufriedenen Fingern eine Zigarre an. „Fräulein Lux ist reich, sehr reich; seit dem bedauerlich frühen Tode ihrer Eltern befindet sie sich im Besitz von zwei Dritteln der Anteile an der Seeversicherung Lux, es ist also kein besonderes Wunder —“
„Ja“, sagte Feuereissen nachdenklich, „da sind wir auch versichert.“ Wir, das hiess: der A 3606 — das hiess ferner: die sämtlichen vierhundert Schweber der OAW-Ltd., das hiess zugleich: Leben und Gesundheit der Fluggäste und der Besatzung. Und da die Luftversicherung nicht etwa das einzige Tätigkeitsgebiet der „Seeversicherung Lux Maatschappij“ Amsterdam, Leidscheplein, bedeutete, so liess sich zuverlässig annehmen, dass Fräulein Loie Lux über eine recht auskömmliche Rente verfügte. Der Flieger äusserte die Vermutung, dies Geschäft sei nahezu gefundenes Geld, denn seit der vor drei Jahren allgemein eingeführten Kreisel- und automatischen Steuerung galt ein Kinderwagen als Mordinstrument im Vergleich zu den Schwebern der OAW. Dann kam er auf Loie Lux’ Heiratspläne zurück und deutete auf Hutton Price hin.
Der Reverend überlegte. „Hm, hm. Was Sie sagen! Diese Beziehungen bestehen ungetrübt seit der frühesten Kindheit. Unser junger Freund unterscheidet sich allerdings von Loies übrigen Verehrern durch seine rauhe und ehrliche Art. Sie wissen, Kommandant, ich vertrete seit dem bedauerlich frühen Tode ihrer Eltern, meiner heissbeweinten Freunde noch aus Fremon, so etwas wie Vaterstelle bei der Verwaisten. Aber Bob? Nicht übel, durchaus nicht, er ist auch aus Fremon.“
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