„Darf ich dich mal was fragen? Gibst du mir den Lappen?“
Brosheim reichte ihn langsam hoch. Es gelang dem Enthusiasten, das Taschentuch um die verletzte Hand zu winden, ohne die Hilfe Brosheims zu beanspruchen, der sich innerlich schon zum Samaritertum entschieden hatte. Er beobachtete den Menschen, bereit zu helfen, aber nur im äußersten Notfall, und begriff deshalb zu spät, dass er mit der Bahn, deren Türen klappten, zur Friedrichstraße hätte fahren sollen.
„Verdammt. Ich hab die Bahn verpasst.“
„Für dich ist ihr Tod 45 Jahre her, für mich erst 20“, sagte der Enthusiast und gab Brosheim einen Anlass, über Logik nachzudenken.
„Ich darf also keine Frage stellen?“ hörte er den Mann fragen.
„Doch, bis die nächste Bahn kommt – verdammt nochmal.“
„Die Bahn bestimmt dein Leben, sie ist dein Schicksal. Eine Unterhaltung mit dir ist ziemlich anstrengend. Bist du Professor oder was? Ich hätte dich gern mal was gefragt: Nämlich warum du auf sie stehst.“
Er deutete mit dem Kopf auf das Buch. Brosheim antwortete hinhaltend, während er den Westen nach Bahnen absuchte:
„Sie hat etwas Schwesterliches, lässt viele Projektionen zu.“
„Was?“
„Projektionen!“ Brosheim wedelte mit den Fingern. Er wusste nicht genau, sollte er auf sich projizieren oder auf den gegenüberliegenden Bahnsteig (Frau Monroe stand ja nicht zur Verfügung).
„Du kannst dir bequem aussuchen, als was du sie sehen willst. Kapiert?“
„Ja natürlich, Mann.“
„Sie hatte mindestens so schlechte Karten wie du.“
„Ich habe lauter Luschen, Alter!“
„Auch wer Luschen hat, ist noch im Spiel. Frau Monroe jedenfalls hatte ganz schlechte Karten. Trotzdem hat sie es nach oben geschafft. Die Königin von England empfing sie, der amerikanische Präsident und sein Justizminister schätzten sie, der Papst hätte sie auch gerne kennen gelernt, und sie war die Frau eines berühmten Schriftstellers. Aber …“
„Der Kerl hat sich nichts aus ihr gemacht, das weiß ich zufällig.“
„Blödsinn. Was weißt du! Er hat sie geliebt. Alle haben sie geliebt. Alle! Sie haben es nur nicht richtig rübergebracht. Sie sind ihr vieles schuldig geblieben.“
„Man hat sie gekreuzigt!“ schrie der Enthusiast, der um die Bank gelaufen und vor Brosheim hingetreten war, eine Hand fest auf die verbundene andere Hand drückend. Die Leute auf dem Bahnsteig drehten sich um.
„Es gibt ein Poster, wie sie am Kreuz hängt, in dem gerüschten Kleid. Sie sitzen alle unten herum: Humph Bogart, Cary Grant, Marlon Brando, John Wayne, Clark Gable, Dick und Doof.“
Brosheim hoffte, dass die Bahn bald einträfe.
„Sie würfeln um ihr Kleid, obwohl sie noch gar nicht tot ist. Sie lächelt immer noch. Ich vergebe euch allen. Über den Dächern von Nizza habe ich fünf- oder achtmal gesehen.“
„Grace Kelly ist mit dem Auto verunglückt, sie wurde nicht gekreuzigt.“
„Ich habe tausend Filme gesehen, ehrlich, aber ich hab mir nie merken können, wer in welchem Film spielt. Humph in Casablanca, das weiß jeder. Ich sage, man hat sie gekreuzigt, die verdammten Schweine haben sie gekreuzigt! Darf ich dich mal was fragen?“
Brosheim nickte nur.
„Kannst du mir das Buch geben?“
„Nein.“
„Du willst sie für dich behalten!“
„Bücher, die ich gelesen habe, verschenke ich nur, wenn sie besonders schlecht sind.“
„Das Buch kostet doch bestimmt seine 200 Mark?“
„Jaah – das könnte hinkommen. Hier, ich schenke dir das Bild. Es ist aus dem Leim gegangen. Diese Paperbacks sind alle mit Spucke festgeklebt.“
„O Mann, ich danke dir! Dein Buch hat ja doch Bilder, wusstest du das? Aber danke, Alter. Was trägt sie denn da?“
„Einen Blaumann.“
„Als hätte sie in der Fabrik gearbeitet.“
„Sie hat ihr ganzes Leben in der Fabrik gearbeitet. Hier ist sie gerade in einer Flugzeugfabrik, vor über 60 Jahren.“
„Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll, Alter. Ich hab kein Geld bei mir. Willst du eine Zigarette? Hast du mal Feuer?“
„Nein, ich bin Nichtraucher. Ich habe dir das Bild geschenkt. Verkauf es nicht. Wenn ich höre, dass du es verkauft hast, schneide ich dir die Eier ab. Kapiert?“
„Ja, ich verkauf es nicht. Ehrenwort.“
Der Enthusiast hielt das Bild in beiden Händen und starrte es an. Er überhörte den quäkenden Signalton der S-Bahn, in die Brosheim gestiegen war. Brosheim atmete auf. Wer ist hier der Enthusiast? Help, I feel life coming closer when all I want to do is die. Solche Sätze konnte sieschreiben! In der Bahn vergewisserte er sich, dass er das Buch eingesteckt hatte.
Brosheim fuhr mit der S-Bahn nach Ost-Berlin und ging wahllos durch ein paar Straßen zur Außenstelle seines Ministeriums zurück. In anderen Städten genösse er es, durch alltägliche, geschäftige Straßen zu schlendern, am liebsten unter einem grauen Himmel. In diesen Kästen, den zugedeckten Straßen, fühlte er sich gleichermaßen verloren und geborgen, sie waren ihm der Inbegriff des Zeitlosen, weil die Zeit in den vielen gegenläufigen Bewegungen zerrieben wurde, Bewegung von Autos, Fußgängern, Straßenbahnen, deren Ziel er nicht zu kennen brauchte und die keine bevorzugte Richtung erkennen ließen. Der graue Himmel gefiel ihm nicht deswegen, weil er die Traurigkeit geliebt hätte, sondern weil die Häuser im Sonnenlicht schrumpfen, begrenzt durch ihre eigenen Schatten, so aber gehörte alles zu ihnen, und er ging wie durch Zimmer, ohne erkannt zu werden. Er würde einen Film über unbekannte Straßen drehen, wenn ihm ein Verrückter Geld dafür gäbe. Wie Russ Meyer Titten, nichts als Titten filmte, würde er Straßen, nichts als Straßen filmen, in denen er sich verlöre. Aber heute war es nicht so wie in den Städten seiner Liebe: Dublin, Paris, Florenz. Heute missfiel ihm der Weg durch die Straßen. Sie sahen nicht verwahrloster aus als anderswo in Europa, dennoch, sie waren ausgespäht worden und für ihn deshalb ohne den Reiz des Vergessenen und darum ohne den Reiz des Wiedererkennens. Die Diktatur hatte sie zerstört, nichts als Staub und Blindheit hinterlassen. Es war den Häusern nicht wirklich abzulesen, den Häusern der Jahrhundertwende oder denen des 18. Jahrhunderts, er hatte nur keine Einstellung zu ihnen. Sie erinnerten ihn an nichts, was er jemals gewusst hatte, so wie die Häuser in Dublin bereits voller Erinnerungen steckten, als er sie zum ersten Mal sah. Die Häuser hier schienen ihm erstickt, ausgeweidet. Er hasste diesen Stadtteil. Am liebsten wäre er zurückgefahren, hätte er sein Gepäck nicht in der Außenstelle stehen gelassen und und seiner Stimmung nicht misstraut, denn er lebte hier in keiner anderen Welt als zu Hause auch.
Er ging bewusst einen Umweg, um sich dem Einfluss der Häuser auszusetzen, sich an sie zu gewöhnen. Er fand an der glatten Front eines Gebäudes aus den 1960ern eine Plakette, die es als Eulers Wohnsitz auswies. Er streckte sich und klopfte dagegen, ob sie aus Bronze wäre. „Hier wohnte von 1743 bis 1766 der Mathematiker Leonard Euler … Berlin 1907“. Zum ersten Mal interessierte er sich aus freien Stücken, ohne getrieben zu werden oder einen Zweck zu verfolgen, für eine Straße der ehemaligen (politisch inkorrekt so bezeichneten) Hauptstadt der DDR: die Behrenstraße. Die Parteidiktatur hatte das Andenken eines Menschen bewahren helfen, dem Brosheim das Vergnügen an eingekleideten Aufgaben verdankte, eine Plakette der Kaiserzeit kopiert und auf den sozialistischen Verputz geschraubt. Das prägte er sich ein. Die Behrenstraße wurde ihm die Hauptstraße des neuen Deutschlands. Hier hatte er zum ersten Mal Fuß gefasst.
Es war Mittag, als er durch die gläserne Drehtür in die Eingangshalle trat. Niemand in dieser Verwaltung kannte seine Mission, auch nicht der amtsdeutsch als „ last“ bezeichnete Leiter der Außenstelle. Ihn würde er morgen vor dem Rückflug ins Bild setzen und ihm mit irgend etwas Technischem auf die Nerven gehen. Er musste etwas bewegen, sich zeigen lassen, Erklärungen entgegennehmen, abwägen, Zweifel äußern, in einer bescheidenen Art nach Papieren verlangen, die Leute beschäftigen, sich umtun. Er machte gleich hier den Anfang und zeigte dem Pförtner als erstem Zeugen seiner offiziellen Anwesenheit den Dienstausweis. Der Pförtner erhob sich halb und ließ sich resigniert zurückfallen, als Bros-heim, ohne eine formelle Geste der Erlaubnis abzuwarten, die Treppe emporstieg. Dann merkte Brosheim, dass es töricht war, in einem fremden Haus nach Zuständigen zu suchen, die er persönlich nicht kannte. Er kehrte daher um und fragte den Mann, der sich abermals erhob und die Tür seines Verschlages öffnete, wo die Kantine sei und ob er einen gewissen Ehrens kenne, Klaus Ehrens, der schon unter der Modrow-Regierung Leiter des Referats Automatisierte Informationsverarbeitung und statistische Auswertung gewesen sein müsse. Ja gewiss, die Kantine befinde sich geradeaus durch die Flügeltür, rechts die Treppe runter, im Keller dem Pfeil nach, und der Herr Ehrens habe sich seit Tagen nicht mehr blicken lassen, wahrscheinlich gehöre er zu den Leuten, die nicht übernommen werden – oder wollen. Brosheim fragte, wer denn nun für das Referat verantwortlich sei.
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