„Die Karlstraße? Ich kenne keine. Der Herr meint die Karlsruher Straße.“
„Die Karlstraße.“
„Sie meinen sicher die Karlsruher oder die Karl-Marx-Straße, wau, nichts für ungut.“
Brosheim ließ die Blätter zwischen Zeigefinger und Daumen hindurchgleiten.
„In Bonn gibt es eine Karl-Max-Straße.“
„Da hat der Kohl das R rausnehmen lassen, politisch korrekt, völlig wau-wau“, entgegnete der Herr.
Brosheim reichte das gelbe Buch zurück. Er tat ihr leid, und daher sagte sie entschuldigend zu dem Hundebesitzer:
„Er kommt nämlich aus Bonn.“
„Wau. Der Karl Marx kommt doch auch aus der Gegend. Was habt Ihr denn mit dem?“
„Gar nichts. Ich brauche ein Zimmer.“
„Versuch es doch mal im Charlottenburger Hof“, warf die Dame beschwichtigend ein, „und dann nochmal hier vorne in Arnulfs Pension.“
„Nein, die heißt anders, liegt aber drei Häuser weiter.“
Brosheim sagte:
„Wenn sie hier vorn ist, schau ich doch selbst nach.“
„Nur ein paar Häuser weiter links.“
„Soll ich nun zahlen?“
„Du zahlst nachher und schaust, dass du rauskommst. Vergiss diesmal den Mantel nicht, es ist ungemütlich draußen.“
Brosheim ging hinaus und schöpfte tief Luft. Er überlegte, ob er rein theoretisch gesehen abhauen könnte, und tastete seinen Mantel und die Jacke ab, ob er nichts dagelassen hätte. Die Hängetasche. Werde nicht vergesslich, alter Junge! Aber selbstverständlich hatte er gar nicht vor abzuhauen. Er blickte in die Straße, nach links, nach rechts. Nichts, was auf ein Hotel oder eine Pension hindeutete. Er fragte eine Frau nach einer Pension Arnulf oder so ähnlich, aber sie schüttelte unwirsch den Kopf, als wollte sie sagen, dass sie auf der Straße nichts kauft. Er schritt fünf Häuser nach links und kehrte dann in die Bar zurück. Nun hatte er seinen eigenen Auftritt auf der kleinen Bühne. Der Hundebesitzer rieb sich noch immer die Hände oder schon wieder. Er ließ Brosheim auf dem Hocker Platz nehmen, bevor er sagte:
„Die Pension ist in der Parallelstraße. Sie müssen, wenn Sie rauskommen, zuerst nach links, dann über die Ampel, dann kommen Sie auf den Holtzendorffplatz, dann halten Sie sich links und da ist dann die Pension Arnold, in der Karlsruher Straße.“
„Es ist kalt“, versetzte Brosheim nur.
„Ja, ungemütlich draußen.“
„Bleib hier“, sagte die Barfrau, „ein Hotel kriegst du sowieso nicht mehr. Du müsstest dir ein Zimmer schon mit zwei anderen teilen. Berlin ist voll bis obenhin.“
Alle drei bestätigten sich gegenseitig, dass Berlin voll sei und dass Berlin eine Veränderung durchgemacht habe, dass die Preise gestiegen und die Hotels trotzdem monatelang im voraus ausgebucht seien. Aber Bros-heim verspürte keine Lust, die Veränderung beim Namen zu nennen. Er fühlte sich müde und wollte die Meinung der anderen über die Wiedervereinigung nicht hören. Den anderen erging es ebenso. Sie waren leer von Politik. Der Mann erzählte, dass Aquavitfässer jahrelang übers Meer gefahren würden, um sie durchzuschütteln, bis der Schnaps aus den Eichenbrettern der Fässer den berühmten Goldstich gesogen hätte. Die Dame ließ sich abwechselnd von beiden zu Likören einladen und berichtete, dass sie, solange sie im Dienst ist, noch nie besoffen war.
„Ab und zu reißt mir der Faden, wenn ich morgens mit einem guten Kunden losziehe, um bei einem Bekannten, außerdienstlich sozusagen, einen Schlaftrunk zu nehmen, nur so zum Vergnügen.“
„Wau!“
Die beiden Männer hörten ihr zu, als berichtete sie über Abenteuer und schreckliche Bräuche in einem fremden Erdteil. Der Hund lag auf den Münzen und schlief. Um Mitternacht kam ein Mann zum Schweigen herein. Er bestellte einen Chablis und versank in Schwermut.
„Der einzige Ort in Berlin, wo man nicht totgetrampelt wird“, sagte der Hundebesitzer zu ihm.
Nach Theaterschluss fanden sich noch vier Gruppen ein, die dafür sorgten, dass sich der Keller füllte und laut wurde. Aus einer Tür hinter dem Tresen trat eine junge Person, eine schöne Frau, die ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid anhatte. Die Lippen sahen in ihrem bleichen Gesicht schwarz aus, eine Tochter Juliette Grécos gewissermaßen, die sich am Tresen zu schaffen machte. Die beiden Damen sprachen leise miteinander. Die junge Person beendete das Gespräch mit einem energischen Kopfnicken und blickte die Gäste an, die hinter dem Lichtvorhang, der zwischen Deckenleuchte und Tresen im Zigarettenrauch schwankte, über ihren Gläsern sannen, als warteten sie auf ein Ereignis, das ihr Leben ändern würde. Brosheim spekulierte, dass die junge Person, eine Aushilfe, die auch nach Mitternacht prompt eingesetzt werden konnte, wenn die Nachfrage es erforderte, die ganze Zeit über im Hinterzimmer auf den späten Andrang der Gäste gewartet und sich mit Lesen die Zeit vertrieben hatte. Bonjour Tristesse. Er hielt es für ausgemacht, dass sie die Tochter der Bardame und eine Studentin war.
Die Bardame erschien ihm nun milde und mütterlich. Sie hatte ihre Wachsamkeit an die junge weitergereicht und wirkte alt. Aber plötzlich war es ihm, als machte sie ein Zeichen mit dem Kopf, ihr ins Hinterzimmer zu folgen. Brosheim unternahm mehrere Versuche, sich zu vergewissern. Er hob die Brauen, zeigte mit dem Finger gegen sich. Sie zog schließlich mokant ihre Lippe hoch und trat unter den Lichtvorhang, dass ihr Haar in reinem Kupfer erstrahlte.
„Wenn ich dir sage: komm, musst du kommen.“
Er stand auf und folgte ihr. Vor der Toilettentür hielt sie ihn auf, fasste das Revers seiner Jacke und sah ihn alt an.
„Hör mal zu, Schmusekater, ich gebe dir einen Schlüssel.“
Sie hob mit der anderen Hand kurz zwei Schlüssel vor seine Augen und stopfte sie dann in seine Hosentasche, dabei stieß sie durch das Futter auf etwas wie einen aufgepumpten Schlauch.
„Du machst jetzt Rechnung bei mir, gehst dann in die Dahlmannstraße, die dritte Querstraße rechts, wenn du rauskommst. Kannst du das behalten? Bei der Nummer 319 nimmst du den Schlüssel mit der Delle, hast du verstanden, und schließt die Haustür auf. Nimm nicht den Fahrstuhl, um diese Zeit benutzt du nicht den Fahrstuhl, sondern schleppst dich selber in die vierte Etage, vergiss das nicht, die vierte Etage!
Sie zischte ihn an.
„Du hörst mir nicht zu!“
Brosheim konzentrierte sich auf ihre Augen, die ihn schwarz anschauten.
„Bleib mit deinen Kuckerchen bei mir und rühr sie nicht von der Stelle, damit ich sehe, ob du begreifst, was ich sage. Ihr Männer seid zu dämlich. Du schließt die Etagentür auf.“
„Welche Etagentür?“
„Du denkst mit, Schmusekater, es gibt nur die eine Etagentür, direkt vor deiner Nase, wenn du aus dem Aufzug rauskommst, aber du nimmst den Aufzug nicht, hast du das verstanden? Du schließt sie auf und gehst leise, wie gehst du? ganz leise durch den Flur und machst kein Licht an. Du schleichst dich durch den Flur und stößt mit deinem Döskopp gegen eine Zimmertür, durch die du dich dünn machst. Hast du das kapiert? Du machst die Tür hinter dir zu und kannst meinetwegen Licht anknipsen. An der Wand hängt ein Van Gogh, das ist dein Zimmer für die Nacht. Pipi machst du, wenn du rauskommst erste Tür rechts. Ist das zu viel für dich? Das Zimmer mit den Gladiolen, du musst es auf Anhieb finden, okay? Du hast das alles verstanden?“
Er grinste und bestätigte ihr, dass er alles verstanden hatte.
Brosheim fand alles so vor. Das Zimmer enttäuschte ihn. Es sah zwar besser aus als ein Hotelzimmer, eher wie ein selten und dann ungern aufgesuchtes Wohnzimmer, in dem alles akkurat an seinem Platz stand. Ihr Zimmer war es nicht. Genau genommen hatte er das auch nicht erwartet. Es war nur eine Hoffnung zweiten Grades, die ihn daran denken ließ. Hoffnungen zweiten Grades gehen niemals in Erfüllung oder bestenfalls nur einmal im Leben, und das hier war nur eine Hoffnung übungshalber, denn was erhoffte er sich von einer vierzigjährigen Ex-Nutte? Das Vertrauen, ihn in ihr eigenes Zimmer zu lassen? Er hatte gehofft, dass sie ihm vor allen anderen Gästen vertraut. Frauen geben ihren Schlüssel nicht so schnell aus der Hand, und wenn sie es endlich tun, hat man schon zweimal mit ihnen geschlafen. Brosheim suchte das Bild, das sie extra erwähnt hatte, nach Mustern und Zeichen ab, die etwas bedeuten könnten. Aber der Kunstdruck, aus einem Kalender gerissen und gerahmt, blieb ausdruckslos, reine Oberfläche. Er zog sich aus und legte sich ins Bett, nachdem er eine schwere bestickte Schondecke aufgeschlagen hatte.
Читать дальше