Schönefeld liegt in der ehemaligen DDR. Die Abgrenzung zur Gegenwart durch das Attribut ‚ehemalig‘ diente kurz nach der Fusion einer genauen zeitlichen Einordnung von Ereignissen: „Nachdem ich am 2. Oktober die DDR verlassen hatte, kehrte ich am 3. Oktober in die ehemalige DDR zurück“. Sauber. In fünf Jahren, spätestens in fünfzig, würde man auf das Ehemalige verzichten, denn niemand sprach vom ehemaligen römischen Reich, auch nicht vom ehemaligen Preußen, obwohl es Preußen de jure noch vor 45 Jahren gegeben hatte. Der Zentralflughafen Berlin-Schönefeld lag also in der ehemaligen DDR und hatte darum ärmlicher zu sein als der Konrad-Adenauer-Airport. Brosheim fragte sich, was der Rotarmist hier suche. Er sollte sich mit Russen die Macht über die zugefallenen Provinzen teilen? Noch lebten sie in ihren zur Heimat gewordenen deutschen Kasernen. Die Kosten für eine sowjetische Heimat und die Übersiedlung würde man zweckmäßigerweise in der neuen deutschen Währungseinheit ausdrücken: Milliarden DM, kurz MDM, denn eine Verwechslung mit Millionen DM war von nun an, seit der kurzen Revolution, der sich die SED, ihrer selbst überdrüssig, gerne gebeugt hatte, nicht mehr zu befürchten.
Hier stand er und wartete auf einen Fahrer des ehemaligen DDR-Außenministeriums, der einige ministerielle Außenstellen anfahren sollte (Genscher also auch zuständig für Außenstellen). Brosheim schüttelte für sich den Kopf. Er musste sich auf allerlei Schwierigkeiten gefasst machen. Es begann schon in Schönefeld. Der Fahrer kam, wollte aber nicht eher mit dem Barkas abfahren, als bis die zweite Maschine im Gefolge der Iljuschin gelandet wäre, „weil ich weitere Damen und Herren aus Bonn erwarte“. Brosheim hätte ihm gerne einen Befehl erteilt, aber die Berliner Art, die er aus frühen Kudamm-Zeiten kannte und die auch am Alexanderplatz zu herrschen schien, hielt ihn davon ab, und schließlich auch seine Überzeugung, dass sie gleichberechtigte Menschen seien, die einander nicht zu kommandieren hätten. Er ärgerte sich trotzdem, entfernte sich von ihm und schaute in die Auslagen der Shops, die schon so hießen und vollgestopft waren mit Gütern aus dem Westen: Marlboro, Playboy und Sony. Eine Dreiviertelstunde kam ihm nicht zu lange vor, weil er sich auf einen vergeudeten Tag eingestellt hatte. Der Kleinbus füllte sich. Einige Mitfahrende kannte er vom Sehen, und er sorgte dafür, dass ihn keiner ansprach, weil er sich auf keine Verabredung einlassen wollte, denn ihm stand das Schwierigste noch bevor: Die Suche nach einem Hotelzimmer in der wiedervereinten Stadt, die von Menschen überschwemmt wurde.
Kurz nach zwei erreichten sie die Außenstelle Unter den Linden. Er stellte sein Gepäck beim Pförtner ab, der erst nach gutem Zureden und einem langen Blick auf den Dienstausweis darin einwilligte, immer noch misstrauisch. Brosheim sagte geschäftsmäßig, er habe außerhalb dienstlich zu tun und werde sein Gepäck später abholen. Nur die Hängetasche warf er über die Schulter und ging. Er war so vorsichtig gewesen, einen Kamm und eine Zahnbürste als ständige Utensilien hineinzuwerfen. Es zog ihn nach Westen, möglichst weit weg (aber nicht zu weit, sonst stieße er wiederum an die Grenze zur – ehemaligen – DDR). Dort wollte er eine Pension suchen, wie in den alten Zeiten, als West-Berlin noch die Insel der Seligen war, von Mauern umgeben, geschützt gegen den real existierenden Sozialismus, aber auch gegen das Ladenschlussgesetz der BRD. Es hätte keinen Zweck gehabt, in den Seitenstraßen Unter den Linden vor die Schalter der Hotelrezeptionen zu treten, um nach einem Zimmer zu fragen. Also überließ er alles dem Zufall, in den er viel Vertrauen setzte.
Er ging zur Friedrichstraße und fuhr mit der S-Bahn weit nach Westen, stieg dann in ein Taxi, nur um den Fahrer zu fragen, ob er keinen Geheimtipp wisse. Selbst der wusste keinen.
„Dann fahren Sie mich zu der nächsten seriösen Bar, die bis morgens offen hat.“
„Seriös?“
„Es darf nichts kosten, der Bedienung in den Ausschnitt zu kucken.“
Brosheim war der erste Gast. Die Frau hinter dem Tresen sagte:
„Du kannst bleiben.“
„Ich geh nur kurz um die Ecke und esse was.“
„Niemand hält dich fest, aber wenn es das ist, mach ich dir eine Bohnensuppe.“
„Aus der Büchse?“
„Was denn sonst.“
Sie war eine Rothaarige in einem hochgeschlossenen schwarzen Kleid. Er schätzte sie auf vierzig, mochte sich aber nicht festlegen.
„Willst du jetzt schon oder später?“
Er gefror und schaute sie an, so dass sie mit ihrer Raucherstimme auflachte.
„Wollen Sie jetzt einen Drink oder möchten der Herr warten, bis er gespeist haben?“
„Jetzt ein Guinness.“
„Nee, ich geb dir eine Weiße mit Schuss. Du bist zum ersten Mal hier. Ich kenne jeden, der reinkommt, und wenn nicht, muss ich schnell entscheiden, ob ich ihn rausschmeiße oder nicht.“
„Danke“, sagte er, „hast du schon mal einen rausgeschmissen?“
„Lassen. Ich seh es den Leuten an.“
„Was siehst du ihnen an?“
„Ob sie Stunk machen wollen. Ich seh es auch daran, was sie anhaben. Du zum Beispiel bist auf der Schreibstube.“
„Ich zum Beispiel bin Großmarktvertreter. Das soll ich jedenfalls – auf Rat eines Bekannten hin – behaupten, wenn ich in die Halbwelt abtauche.“
„Also hör mal!“
„Ich bin auf der Schreibstube, du hast recht.“
„Bei Vatern Staat? Geht mich nichts an. Du hast den ganzen Tag gearbeitet, willst was für die Gemütlichkeit tun und trotzdem deiner Frau später in die Augen sehen können, in die Kuckerchen.“
„Ich bin nicht verheiratet.“
Sie stellte ihm die Weiße auf den Tresen, frottierte sich die Hände an einem Tuch und verschwand in einer schwarzen Ecke. Er kam jetzt dazu, sich in der Bar umzusehen. Sie war einem Wohnzimmer vergleichbar, einer Straußenwirtschaft, ihrer Größe nach zu urteilen, ausstaffiert allerdings mit rötlich schimmerndem Mobiliar. Er tippte auf Kirsche oder Mahagoni und beschloss, die Bardame zu fragen (vergaß es aber). Die wenigen Tische standen auf einem Podium, gegeneinander abgegrenzt durch Messing-Geländer. Sehr spät, nachdem er sich an das indirekte Licht gewöhnt hatte, bemerkte er, dass der Boden voller Münzen lag. Er wunderte sich, dass er sie beim Hereinkommen übersehen hatte, und traute sich nicht, vom Hocker zu steigen, um die Währung festzustellen. Er würde es in Gegenwart der Dame tun.
Sie reichte ihm in einer dicken, roten Tasse die Bohnensuppe und drückte ihm eine halbe Schrippe in die Hand.
„Du bist nicht aus dem Osten“, sagte sie.
„Wieso? Hätte jemand aus dem Osten die Nüsse vom Boden geklaut?“
„Blödsinn.“
„Aus Bonn“, sagte er.
„Ah, von ganz von oben! Der Westen wimmelt jetzt von Ossis, aber ich habe hier noch keinen gesehen. Darum frage ich, ob du von drüben bist. Wäre ein Jubiläum.“
„Du hast es vielleicht nur noch nicht gemerkt.“
„Ich merke das, ich rieche es, ich sehe das und höre es auch.“
„Bei mir warst du aber nicht sicher?“
„Dich kann man schwer erraten.“
„Trotzdem hast du mich hereingelassen, ohne einen Knopf zu drücken und deinen Rausschmeißer zu rufen?“
„Instinkt mit Restrisiko.“
„Ist das schmeichelhaft für mich?“
„Das ist doch nicht wichtig für dich“, sagte sie, ließ dabei ihre Stimme rauh durch die Kehle und beugte sich zu ihm:
„Nun iss!“
Die Tür wurde aufgerissen und herein schneite, zu schwungvoll für den kleinen Kellerraum, ein aufgedunsener Mann in eleganter Kleidung.
„Lässt dich auch mal sehen?“ fragte die Frau und erhob sich von ihren Ellbogen.
„Hi“, sagte er, „gib das Telefon rüber. Hast du einen Drink für mich übrig?“
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