Von Freiburg nach Stuttgart
Im Jahr 1978 war der SC Freiburg nicht zuletzt dank der Tore von Wolfgang Schüler in die 2. Liga Süd aufgestiegen. Der ältere Bruder des Löw-Freundes Henry Schüler hatte seine fußballerische Grundausbildung ebenfalls bei der Eintracht absolviert. Kein Wunder also, dass sich die Breisgauer auf der Suche nach Nachwuchs-Talenten erneut bei der Eintracht umsahen und schließlich den 18-jährigen Torjäger Jogi Löw verpflichteten. Der hatte da bereits ein Jugend-Länderspiel bestritten und sich den Ruf als eines der größten Talente Südbadens erworben. Der 1,79 Meter große Schlaks mit dem Pilzkopf kam ab dem 2. Spieltag zum Einsatz und erlebte einen fürchterlichen Auftakt: 0:5 in Offenbach, 0:5 gegen Homburg, 0:2 in Fürth. Dann ging es mit einem 4:3-Sieg gegen Saarbrücken endlich aufwärts. Seinen ersten Treffer erzielte das grazile Sturmtalent am 9. Spieltag zum 2:0 gegen Baunatal (Endstand 3:1). Unter Trainer Heinz Baas, der den erfolglosen Manfred Brief abgelöst hatte, etablierte sich der Neue als Stammspieler. Als der erhoffte Torjäger erwies er sich jedoch noch nicht: Er erzielte in dieser Spielzeit nur noch drei weitere Treffer.
In der nächsten Saison unter Jupp Becker, ehemaliger Nachwuchscoach des VfB Stuttgart und ein ausgemachter Verfechter des Angriffsfußballs, lief es wesentlich besser. Löw machte alle Spiele mit – in der damaligen 20er-Liga waren das 38 – und erzielte 14 Tore. In derselben Spielzeit verdiente er sich zudem internationale Lorbeeren. Am 10. Oktober 1979 erhielt er seine erste Berufung in die damals von Berti Vogts betreute Juniorenauswahl (U21) des DFB. Beim 0:1 gegen Polen in Thorn wurde er in der zweiten Hälfte für Klaus Allofs eingewechselt. Bis zum Frühjahr 1980 folgten drei weitere Spiele an der Seite von späteren Fußballgrößen wie Lothar Matthäus, Rudi Völler, Pierre Littbarski und Bernd Schuster. »Dort gab es schon ein gewisses Niveau, und ich war eine feste Größe«, wird Löw noch Jahre später nicht ohne Stolz erzählen.
Es war bei dieser Leistungsbilanz kein Wunder, dass der stilbewusste junge Offensivspieler, der – wie damals nicht unüblich – eine Vorliebe für Schlaghosen hatte und modische Hemden mit ganz langen Krägen, der zudem einen Schnäuzer trug und einen Ring im linken Ohr, den Talentjägern der großen Bundesligavereine ins Auge gefallen war. Es gab Angebote von Bayern, Schalke, Frankfurt und dem VfB. Löw entschied sich schließlich für die Stuttgarter, die eine für damalige Verhältnisse recht üppige Ablöse von 500.000 DM hinlegten. Er hatte nun glänzende Perspektiven. Sein letztes Spiel für den SC Freiburg bestritt er am 18. Mai 1980 in Bürstadt. Die Breisgauer gewannen locker mit 5:1. Doch Joachim Löw war beim Abpfiff nicht mehr auf dem Platz: In der 49. Minute hatte er nach einem Ellbogencheck Rot gesehen. Es war ein etwas unrühmlicher Abschied für den normalerweise stets fairen Spieler.
Während der Vorbereitung zur Bundesligasaison in Stuttgart hinterließen das Talent aus dem Schwarzwald und die zwei weiteren Neuzugänge aus der 2. Liga – Karl Allgöwer von den Stuttgarter Kickers und Dieter Kohnle vom SSV Ulm – in den ersten Testspielen einen guten Eindruck. Während Allgöwer zu einer tollen Karriere durchstartete, hatten jedoch Kohnle und Löw Pech. Denn sie lagen noch vor Saisonbeginn zusammen auf Zimmer 544 des Stuttgarter Katharinenhospitals. Kohnle mit Kapsel- und Bänderriss, Löw mit Schienbeinbruch. Jürgen Sundermann bedauerte den Ausfall seiner beiden Talente: »Beide hatten sich mit großem Ehrgeiz hineingekniet, waren auf dem besten Wege, versprachen viel.«
Vier Tage vor dem ersten Ligaspiel hatte Löw das Schicksal in Gestalt des englischen Nationaltorhüters Ray Clemence ereilt. Es war schon etwas kurios. Löw hatte bis dahin immer à la Paul Breitner mit heruntergezogenen Stutzen gespielt. Ohne Schienbeinschoner. Nach dem Wechsel zum VfB war dann die Anweisung von Trainer Jürgen Sundermann ergangen: »Stutzen unten geht nicht mehr, verboten. Schienbeinschoner anziehen!« Balltechnisch begabte Spieler wie Joachim Löw hassten Schienbeinschoner. Aber er gehorchte und zog sie sich an. Und dann passierte es: »Mein allererstes Spiel mit Schienbeinschoner, ein Vorbereitungsspiel gegen Liverpool: Schienbeinbruch! Ich bin von der Mittellinie alleine auf den Torwart zugelaufen, den Ball ein bisschen zu weit vorgelegt – dann tritt Ray Clemence auf mein Standbein.«
Diese 13. Minute im Stuttgarter Neckarstadion beim letzten Vorbereitungsspiel zur Saison 1980/81 hatte schwerwiegende Folgen. »Bis vor meinem Schienbeinbruch war ich überragend, wirklich gut«, erinnert sich Löw. Es war ein komplizierter Bruch. Vier Wochen lag er im Krankenhaus, insgesamt acht Wochen trug er Gips: »Mein Oberschenkel hatte danach den Umfang meines Oberarms.« Es dauerte Monate, bis er wieder einigermaßen belastbar war. Am Ende der Saison wagte er vier Einsätze. Aber es war nicht mehr so wie zuvor. »Ich war nicht mehr so schnell, das war das Problem. Und ich hatte Angst.« Aber noch gab es Hoffung. Er war ja gerade erst 21 Jahre alt geworden. Hätte die Verletzung eine Fortsetzung der Fußballkarriere nicht mehr zugelassen, hätte er vermutlich eine Tätigkeit in seinem gelernten Beruf aufgenommen, überlegt Joachim Löw heute. Oder er hätte früher mit seiner Trainerausbildung begonnen.
Über Frankfurt zurück nach Freiburg
Der Vorgänger von Jürgen Sundermann, Lothar Buchmann, arbeitete inzwischen bei der Frankfurter Eintracht. Er hatte Löw schon zu seiner Zeit beim VfB als entwicklungsfähiges Talent ins Auge gefasst und holte ihn nun als Leihspieler. Das Geld für einen Kauf besaß der amtierende deutsche Pokalsieger nicht, den damals immense Schulden drückten. Buchmann stellte Löw als möglichen Nachfolger für Bernd Hölzenbein vor, den Weltmeister von 1974. Der Schwarzwälder sei ein schneller und trickreicher Offensivspieler mit Torriecher, behauptete er. Und er wagte sogar einen direkten Vergleich: »Ein Talent wie Allgöwer.« Das war eine gewaltige Hypothek. Und nicht wenige Beobachter in Frankfurt waren skeptisch. Umso erstaunlicher war es, dass er in der Vorbereitung durchaus zu überzeugen wusste. In einem mit 6:1 gewonnenen Testspiel gegen eine Auswahl St. Margarethen/Höchst erzielte er respektable vier Treffer, gegen AS St. Etienne in Paris zeigte er ebenfalls eine ansprechende Leistung. Die »Abendpost« schrieb: »Joachim Löw trug als zweite Sturmspitze Bernd Hölzenbeins hinterlassene Nummer 7. Eifrig, fleißig, immer bereit, sich anzubieten, und immer gewillt, den Ball sofort wieder abzugeben, bemühte Löw sich an die neue Umgebung zu gewöhnen.« Trainer Buchmann sah sich in seiner Einschätzung bestätigt: »Ich habe immer an Löw geglaubt und ich wusste, dass er genau in unser Frankfurter Konzept passen würde. Deshalb habe ich mich für ihn stark gemacht.« Löw selbst war ebenfalls zuversichtlich: »Das komplizierte, vertrackte Passspiel der Frankfurter liegt mir. Ich bin kein Dauerläufer. Ich hab’ den Ball lieber flach, passe mich den Nebenleuten an, gehe auf ihre Ideen ein, wenn ich so viel Verständnis wie von meinen neuen Kameraden finde.«
Aber würde er dem harten Bundesliga-Alltag gewachsen sein? Im Vorbericht der »Bild« zum ersten Saisonspiel gegen den 1. FC Kaiserslautern meinte der Neu-Frankfurter: »Ich konzentriere mich zwar auf das Spiel, habe mir auch schon ausgemalt, wie ich gegen Kaiserslautern ein Tor schießen könnte, aber ein Hölzenbein-Trauma gibt’s bei mir nicht. Ich bin nicht der Holz. Ich bin der Löw.« Tatsächlich erzielte er im Spiel gegen die »Roten Teufel« (Endstand 2:2) die 1:0-Führung. »Bei meinem Tor hab’ ich nicht überlegt, sondern einfach draufgehalten«, berichtete er in seinem ersten Interview als Bundesliga-Torschütze. Sein Trainer war begeistert von dem feingliedrigen Stürmer. Der Jogi sei »eine echte Verstärkung«, meinte er, man werde »noch viel Freude« an ihm haben. Bei Lothar Buchmann, im Vergleich zum Disziplinfanatiker Sundermann ein eher väterlicher Trainer, schien Löw in guten Händen. Doch der stets etwas schüchtern wirkende 21-Jährige sollte in der Folgezeit kaum einmal besonders auffällig werden, obwohl er meist in der Startelf stand. Ab und zu deutete er seine Qualitäten an, meist aber bewies er wenig Durchsetzungsvermögen. Da auch seine Kondition zu wünschen übrig ließ, wurde er fast immer ausgewechselt – ob im Europapokal gegen Saloniki, im DFB-Pokal gegen Brunsbüttel oder in der Bundesliga. Erst am 10. Spieltag, beim 2:1 gegen Bielefeld, gelang ihm wieder ein Treffer. Doch auch in diesem Spiel hatte er nicht wirklich überzeugt. Er müsse mehr aus sich machen, insisistierte der Trainer, vor allem müsse er zweikampfstärker werden.
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