Es kam die Winterpause, in der Löw den Konflikt zwischen den Leitwölfen Verlaat und Balakov zu beschwichtigen versuchte, den zum Bankdrücker gewordenen ehemaligen Stammspieler Franco Foda endgültig aussortierte und zugleich anderen Spielern, die bislang in der zweiten Reihe gestanden hatten, Mut zusprach. Harmonie herstellen, lautete das zentrale Stichwort, Unstimmigkeiten bereinigen und auch dem letzten Ersatzmann noch zeigen, dass er wichtig und Teil des Teams ist. Und indem Löw in dieser Weise über den Jahreswechsel entschlossen die Zügel anzog, begann sich sein Image zu wandeln. »Ein Mann gewinnt Format«, titelte das »Fußballmagazin« im Januar 1997. Und Mayer-Vorfelder wurde mit dem Satz zitiert: »Der Jogi ist unheimlich cool. Er lässt sich nicht von einer Euphorie anstecken und wird auch nicht in die Tiefe gerissen, wenn etwas schiefläuft.« Begann der Präsident seinem Trainer nun endlich zu vertrauen? Löw blieb vorsichtig. »Tatsache ist, dass man mir im Verein, im Umfeld und auch durch die Medien mit Skepsis begegnet ist. Das ist auch heute noch so. Ich bin nun mal auf dem Prüfstand.« Beinahe drohend fügte er hinzu: »Wenn ich etwas wirklich will, dann versuche ich, es mit jeder Faser meines Körpers, meines Geistes auch durchzusetzen.«
Joachim Löw spürte, dass ihm vom Vorstand nach wie vor nicht das Vertrauen entgegengebracht wurde, das er eigentlich verdient hatte. Als nach einem 2:2 in Bremen zum Rückrundenauftakt schon wieder Kritik aufkam, meinte Torwart Wohlfahrt: »Mit guten Ergebnissen wollen wir darauf pochen, dass der Trainer bleibt.« Tatsächlich waren die Ergebnisse unter dem Strich auch gar nicht so schlecht. Der VfB stand in der Bundesliga auf Platz vier. Außerdem hatte er das Halbfinale im DFB-Pokal erreicht. Gut, man hatte sich da eher hingeschlichen, die Siege gegen Fortuna Köln und Hertha BSC (jeweils im Elfmeterschießen) sowie gegen den FSV Zwickau (2:0) und den SC Freiburg (erneut im Elfmeterschießen) waren so wenig berauschend gewesen, dass kaum jemand darüber sprach. Die Fakten einmal genannt haben wollte der Cheftrainer aber dennoch: »Der VfB stand seit Jahren nicht mehr so gut da wie jetzt.«
Und es sollte noch besser werden. Denn es begann der »goldene März«. 4:1 gegen den HSV, 5:1 beim 1. FC Köln. Mit Traumfußball. Und mit einem noch selbstbewusster gewordenen Löw. »Fußball ist ein Schaugeschäft, und die Darsteller spielen ihre lauten, schrägen, schillernden Rollen darin«, konstatierte er. »Und zu mir sagt man fast vorwurfsvoll: Sie sind ja so normal.« Aber die aktuellen Siege würden ja nun wohl zeigen, dass er bei seinen Erfolgen zu Saisonbeginn nicht nur das Glück des Debütanten auf seiner Seite gehabt hatte, sondern dass auch normale Menschen gute Trainer sein können. So gut, dass deren Ergebnisse sogar beinah unnormal werden konnten. Der VfB fegte den amtierenden Meister Borussia Dortmund mit 4:1 vom Platz. »Ich bin überwältigt und sprachlos«, sagte der »normale Trainer« nun. »Die Mannschaft ist in einer überragenden Spiellaune und unberechenbar geworden.« Aber was heißt unberechenbar? Sie gewann erwartungsgemäß weiter, nun mit 4:0 in Düsseldorf. Die Mannschaft zeigte alles, was den Fußball-Feinschmecker erfreut: Spielfreude, balltechnische Brillanz, Herz und Emotionen, aber auch Disziplin und taktische Raffinesse, und natürlich tolle Tore. Die Euphorie der VfB-Fans war riesig und die Kritik sich einig: Keiner spielt in Deutschland schöner Fußball als der VfB.
Selbst der unermüdliche Löw-Skeptiker Mayer-Vorfel der schien endlich überzeugt. »Joachim Löw ist nah an der Mannschaft, spricht die Sprache der Spieler, hat aber eine natürliche Autorität«, lautete jetzt die präsidiale Einschätzung. »Er verfügt über eine sehr gute analytische Gabe. Alles, was er sagt, trifft später im Spiel ein. Er weiß, dass Fußball Freude machen muss – auch wenn die Spieler nur ihrem Beruf nachgehen. Er hat zwar noch nicht viel Erfahrung, aber er hatte ein Jahr Zeit, um zu beobachten, wie man’s nicht macht. Er ist ein gescheiter Kerl und hat daraus gelernt.« Die These vom zu jungen und zu braven Trainer, vom höflichen, netten und stets unterschätzten Herrn Löw, schien nun endlich zu den Akten gelegt.
Zur Meisterschaft reichte es trotzdem nicht mehr. In den letzten Spielen ließ die Kraft nach, es gab unglückliche Punktverluste und jede Menge Verletzungspech. Vor dem 28. Spieltag lag der VfB auf Platz drei, mit einem Punkt Rückstand auf Leverkusen und sechs auf Bayern. Weil gleich vier Leistungsträger ausgefallen waren (Verlaat, Schneider, Soldo, Legat), verlor der VfB das entscheidende Spiel in Leverkusen mit 1:2. Am Ende landeten die Stuttgarter »nur« auf dem vierten Platz. Aber in ganz Deutschland war man sich einig: Die Stuttgarter mit ihrem »magischen Dreieck« hatten den attraktivsten Fußball der Liga gespielt. »VfB« müsse jetzt neu definiert werden, schrieb der »Kicker«: »Verein für Ballzauber«.
Und es gab ja noch den Pokal. Mitte April hatte man im Halbfinale den HSV mit 2:1 besiegt. Gegner am 14. Juni 1997 im Finale von Berlin war der Zweitligaufsteiger aus Cottbus. Das sollte eigentlich kein Problem sein, zumal man für den Fall der Fälle in dem österreichischen Nationaltowart Franz Wohlfahrt einen in den Pokalspielen gegen Hertha BSC und Freiburg bestens bewährten Elfmetertöter in seinen Reihen wusste. Wohlfahrts Qualitäten waren dann gar nicht gefordert. Der VfB gewann durch zwei jeweils von Balakov aufgelegte Elber-Tore locker mit 2:0. Bei der Pokal-Siegesfeier im Hotel Esplanade mischten sich unter die Freude freilich auch ein paar Tränen der Trauer, da der Wechsel des famosen Giovane Elber zum FC Bayern bereits beschlossene Sache war. Für Löw stand trotzdem fest, dass diese Saison für ihn nicht nur Genugtuung, sondern Ansporn zugleich bedeutete. Als die Pokalsieger auf dem Marktplatz in Stuttgart von 20.000 jubelnden VfB-Fans begrüßt wurden, erschien der Erfolgstrainer mit einer Glatze, die ihm Gerhard Poschner verpasst hatte. Für Thomas Berthold, der in dieser Saison noch einmal aufgeblüht war, stand fest, wen man zum Trainer des Jahres küren musste: Joachim Löw. Seine Begründung: »Wir sind Pokalsieger, haben lange um den Titel mitgespielt und schließlich nur wegen Verletzungen und Sperren den Anschluss verpasst. Er hat alle eines Besseren belehrt und bewiesen, dass er besonders im psychologischen Bereich allen was vormachen kann.«
Führungsmangel und Winterkrise
Voller Zuversicht ging der junge Stuttgarter Coach in seine zweite Saison als Verantwortlicher an der Seitenlinie. »Ich bin heute der Ansicht, dass es viel schöner ist, Trainer zu sein statt Spieler«, ließ er sich in der Sommerpause vernehmen. »Der Trainer hat eine komplexere und vielseitigere Aufgabe. Als Trainer gibt es keinen Stillstand, man ist stets gefordert.« Einige Monate später hätte er sich sicherlich gewünscht, etwas weniger gefordert worden zu sein als in dieser prekären Saison. Aber erst einmal sah ja alles noch gut aus. Er hatte einen Titel geholt und sich bewährt. Er hatte schwierige Profis ins Team eingebunden und schwächelnden Spielern neues Selbstbewusstsein verpasst. Und am Ende, so schien es, hatte er sogar den hyperkritischen Präsidenten von sich überzeugt.
Es gab also durchaus Anzeichen, dass die Saison 1997/98 ähnlich erfolgreich verlaufen könnte wie die vorherige. Zwar war das »magische Dreieck« durch den Abgang von Elber gesprengt, aber Löw hatte vielversprechende Neuzugänge klargemacht. Elbers Rolle sollte Jonathan Akpoborie übernehmen, der in Rostock eine starke Saison gespielt hatte. Und als Verstärkung für das Mittelfeld kam von den Grasshoppers Zürich der als hochtalentiert geltende »türkische Schweizer« Murat Yakin. Ihm eilte zwar der Ruf eines lauffaulen Exzentrikers voraus, aber er sei, so Löw, ein fast perfekter Spieler. Dass er mit dieser Verpflichtung eine Lawine ins Rollen bringen würde, konnte er freilich zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen.
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