Oskar Gundermann nickt.
„All das glaube ich, mein liebes Kind. Und all das hätte anders sein können, wenn Heinrich nicht den einen Fehler begangen hätte, seine Ehe den Eltern zu verschweigen. Sie hätten euch geholfen und euch die Umstände geschaffen, unter denen ihr euch wohlfühlen konntet.“
„Ja und nein, Herr Gundermann. Wir haben lange darüber nachgedacht. Und manchmal lag es uns nahe, aus äusseren und inneren Gründen. Denn Sie wissen, er hat seine Eltern geliebt. Aber sein Entschluss gründete sich hier auf einen Satz, und der ist unanfechtbar. Er schrieb ihn mir einmal, und ich habe ihn ungefähr auswendig gelernt: ‚Meine Ehe ist eine Angelegenheit innerster Art, und keine leichte. Sie ist ganz im Gefühlsleben begründet und hat weiter keine materielle Grundlage. Denn jeder sorgt für sich selbst. Also will ich nicht, dass andere Menschen an diesen inneren Vorgängen teilnehmen, namentlich nicht Menschen, die mir gut sind, denen diese Ehe nur eine Sorge mehr ist, und die beim besten Willen nicht imstande sind, meine Gefühle zu teilen.‘“
„Glauben Sie wirklich, Konstanze, dass es den Menschen so schwer wird, Sie zu lieben?“
Konstanze verzieht schmerzlich den Mund —
„Aber wissen Sie, lieber Freund, wie weit ich imstande bin, eine Liebe zu belohnen?“
Gerhard Stein hat schweigend dabeigesessen und eine Zigarette nach der andern geraucht. Nun rückt er plötzlich an seinem Hut.
„Mir fällt plötzlich — zu spät wohl — ein, dass Sie meine Anwesenheit als überflüssig empfinden könnten —“
„Aber nein,“ sagt Oskar Gundermann. „Wenn ich recht verstehe, gehören Sie ja zum nahen Freundeskreis — und wir sind ja hier in derselben Angelegenheit.“
„Doch haben Sie vielleicht etwas Besonderes mit Konstanze zu besprechen —“
„Nichts, was Sie nicht hören dürften, Herr Stein. Heinrich hat in seinem letzten Brief an die Eltern von seiner Frau gesprochen und ihren Schutz für sie erbeten.“
Konstanze reckt den Kopf.
„Was für Schutz?“
„Nehmen wir die Dinge bürgerlich und materiell. Mein Bruder Robert hat — hatte zwei Söhne, Heinrich und Fritz, für den als zukünftigen Mitinhaber der Fabrik vollkommen gesorgt ist. Sie begreifen, dass die Eltern nicht wünschen, jemand, der ihrem Sohne nahestand, könnte Mangel leiden.“
„Ich leide nicht — ich klage nicht, Herr Gundermann.“
„Aber wie sprachen Sie vorhin von Ihrem Beruf! Sie sagten ‚Beschäftigung‘. Ist es nicht vielleicht pure Notwendigkeit —“
„Gewiss Notwendigkeit, aber auch das beklage ich nicht. Was soll ich denn in aller Ewigkeit mit mir anfangen? Oder halten Sie es auch nur für einigermassen möglich, dass ein fünfundzwanzigjähriges Frauenzimmer sich als pensionierte Witwe zur Ruhe setzt? Und wäre ich als Kind in die Ehe getreten und wüsste nichts von der Welt als Heinrich und hätte nichts angebetet als ihn — nein, Herr Gundermann, die Frage ist doch einfach: Soll Konstanze Gundermann ins Wasser gehen oder weiterleben? Ins Wasser bin ich nicht gegangen, also weiterleben, mit all dem Gepäck von Lastern und Belastungen — ich — und für mich —“
„Konstanze —“ Oskar spricht warm und herzlich. „Ich darf so zu Ihnen sagen. Nicht darum handelt es sich heute. Ihr Leben soll nicht beengt und beschränkt werden. Aber da sind zwei alte Leute, die ihren Sohn beweinen. Und die in derselben Stunde, die ihnen den Sohn nimmt, erfahren, dass sie eine Tochter haben.“
„Nein, Herr Gundermann, die Frage hat Heinrich entschieden. Ich sage Ihnen offen: Hätte er anders entschieden — ich würde mich gar nicht so sehr gesträubt haben. Unser Leben war hart genug, und man hat mehr als einmal heimlich den Wunsch gehabt: so vier Wochen Bürgerlichkeit in warmer, guter Stube. Das hätte mal sehr gut getan; er hat es nicht gewollt.“
„Nun hat er es aber doch gewollt. In dem Augenblick, wo er nicht mehr sorgen konnte — da gab er Ihnen den Weg zur Zuflucht frei.“
„Jetzt aber hat Heinrich keine Macht mehr über mich. Und stützt mich auch nicht. Auch nicht den Eltern gegenüber. Was soll so ein bunter Vogel —,“ und leise: „und ich bleibe ein bunter Vogel, auch in schwarzen Kleidern — im Trauerhaus? Man wird sich anstaunen — zu verstehen suchen, alles wird ersticken in Familienliebe — und so fort. Herr Gundermann — oder ich sage auch, lieber Onkel Gundermann, Sie sind ein herzlich guter Mensch. Und die Eltern Heinrichs sind es gewiss auch. Aber wissen Sie, ob ich es bin? Wozu erst all das Betasten und Beriechen, bis der Konflikt kommt — der jetzt noch nicht da ist?“ Konstanzens Tränen stürzen vor, sie schluchzt ins Taschentuch.
„Sei ruhig, Konstanze,“ sagt Gerhard Stein.
„Aber sag’ du doch dem Herrn, dass es unmöglich ist —“
„Ich finde es nicht unmöglich, Konstanze. Es handelt sich vorläufig um das: Da sind ein paar Menschen in Trauer. Die in Berlin und du hier. Sie trauern um denselben Gegenstand. Und nun setzen sie sich für ein paar Tage oder Wochen zusammen. Das ist alles, was von dir verlangt wird, und mit Recht. Und dann gehst du deiner Wege, wie du es verlangen kannst.“
Konstanze weint und schweigt lange.
Dann sagt sie: „Lassen Sie mir Bedenkzeit! Diese Nacht — morgen werde ich Ihnen darüber Bescheid sagen.“
Oskar Gundermann sucht nun abzulenken.
„Sie sind auch hier engagiert, Herr Stein?“
Oskar glaubt in den tiefgrauen Augen Steins eine Unsicherheit wahrzunehmen.
„Nein, in Hamburg. Aber wir waren alle drei in Breslau zusammen — es ist wohl vier Jahre her. Heinrich als Korrepetitor, ich beim Schauspiel, Konstanze —“ Er stockt.
„Im Chor — sag’s doch, im Chor —“
Oskar hat einen leichten Schwindelanfall zu überwinden.
Konstanze lächelt wie in Erinnerung an eine heitere Zeit.
„Das war gar nicht so schlimm, wie Sie es sich ausmalen. Uebel daran ist nur der Dumme. Wer mit Bewusstsein handelt, kann alles tragen.“
„Nun ja, ich kann verstehen, eine Frau, die zum Ziele kommen will. Ich weiss, Konstanze, und habe in jungen Jahren auch einiges mit dem Theater zu tun gehabt. Es gibt verschiedene Arten, Karriere zu machen.“
Und wieder lächelt Konstanze —
„Nein, Onkel Gundermann, auch das sollen Sie nicht glauben, dass ich mit brennendem Ehrgeiz und mit übertriebenen Hoffnungen zum Theater gegangen wäre. Denn ich habe immer gewusst, was Kunst ist — aber ich habe zu einer gewissen Zeit gesehen, dass eine Frau von gewissem Herkommen, gewissem Charakter und einem — immerhin — gewissen Talent in dem Betriebe der Kunst Unterschlupf findet — so etwa wie ein Jurist von durchschnittlichem Kaliber tausend Unterschlupfe hat —“
„Sind Sie wirklich so durchschnittlich —?“
„Nichts als das. Achtzig Prozent kommen mit irgendeiner kleinen Begabung, die sie über ihre Umgebung stellt, von unten — zwanzig Prozent, die sich aus irgendwelchen Ursachen nicht in ihrem natürlichen Kreis halten können, kommen von oben, und verwenden ein kleines Talentchen, das unter normalen Umständen gerade gereicht hätte, die Freunde im Salon zu unterhalten. Man muss sich eben verwerten. Ich weiss, dass es die Familie lieber gesehen hätte, wenn ich mich an die Schreibmaschine gesetzt hätte. Vielleicht hatte die Familie sogar nicht unrecht, und ich habe kein Wort dagegen sagen mögen, als sie mein Schwesterchen dazu herumkriegten. Aber sehen Sie, Onkel, den Widerspruchsgeist habe ich mit auf die Welt bekommen, und als ich merkte, dass die Familie nicht für mich da ist, sah ich nicht ein, weshalb ich für die Familie da sein sollte.“
Oskar Gundermann sticht eine kleine Neugierde —
„Und die Familie ist etwas so gar Kompaktes?“
„Sie bildet es sich ein. Die Herren und Damen von Distel führen ihren Wert darauf zurück, dass ein Urgrossvater durch ungeheures Sitztalent es mal zum Kabinettsrat Friedrich Wilhelms des Dritten gebracht hat. Dieses Von brachte die Söhne in die Ministerien und Offiziersstellen, die Töchter aber zu anderen armen Bons, deren Urgrossväter auch mal Kabinettsräte waren. In der Familie werden Sie sich vergebens nach einem bedeutenden Kopf umsehen. — Sie werden dann höchstens meinen armen Vater finden — aber der — es ist nicht gut, wenn einer plötzlich alles hat — dann hat er zuviel — aber wir wollen darüber schweigen.“
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