Da zuckt der breite Mund Steins wieder mal.
„Konstanze ist nie einverstanden — aber die Notwendigkeiten gehen ihren Gang.“
In diesem Augenblick tritt Konstanze von der Strasse herein. Sie kommt in einem tiefblauen Kostüm, hat auf den dunkelblonden Haaren ein einfaches schwarzes Hütchen. Oskar Gundermann sieht sofort: heute hat sie keine Mittelchen angewendet. Die Haut mit den sichtbaren Poren ist bleich, unter den Augen kleine Fältchen der Uebermüdung, aber der Mund hat auch genug natürliche Frische. In der Hand trägt sie ein paar dunkle Nelken, die sie vor Oskar hinlegt.
„Ich danke Ihnen, Konstanze — setzen Sie sich — darf ich Ihnen etwas anbieten?“
„Ich habe schon Kaffee getrunken, höchstens einen Kognak ...“
Oskar Gundermann will die entscheidende Frage noch nicht stellen, sucht von Gleichgültigem anzufangen. Aber Konstanze schneidet ab:
„Ich habe eben bei dem Direktor meine Entlassung genommen. Meine Koffer sind gepackt, mit dem Mittagszug fahren wir nach München, wo ich einige Trauersachen kaufen will. Und dann mit Ihnen nach Berlin ...“
„Wann hast du denn gepackt, Konstanze?“ fragt Gerhard.
„Heute nacht — aber ich muss dich bitten, noch einiges für mich zu besorgen. Sie sind mir nicht böse, wenn ich Herrn Stein auf eine Stunde Ihrer Gesellschaft entziehe.“ — —
Oskar Gundermann hat seinem Bruder telegraphisch die bevorstehende Abreise mitgeteilt. Sein Köfferchen ist auch bereit, und nun schlendert er noch die Stunde bis zum Zuge im Ort umher. Er hat sich kaum gemerkt, wo Konstanzens Wohnung ist. Und ohne recht zu denken, geht er unwillkürlich den Weg, den er gestern abend an Gerhard Steins Seite ins Hotel zurückgegangen ist. Und plötzlich steht er vor einem Hause, dessen Vorgärtchen ihm wegen des bizarren Gitters im Gedächtnis geblieben ist. Es ist ihm peinlich, ohne Willen diesen Weg gegangen zu sein.
Er möchte hier nicht beobachtet werden und will sich zur Seite wenden. Stimmklänge halten ihn zurück. Stimmklänge hinter geschlossenen Fenstern. Ein dunkles Bitten eines Mannes und Konstanzens helle, zornige Abwehr.
Oskar Gundermann schüttelt den Kopf. Dann trollt er weiter.
Auf dem Bahnhof belegt er die Plätze. Als Konstanze erscheint, ist sie allein mit geringem Handgepäck. Noch um einen Schatten bleicher. Und mit unsicherer Stimme sagt sie: „Gerhard Stein lässt sich Ihnen empfehlen.“
Als der Zug sich in Bewegung setzt, lehnt sie sich tief zurück. Oskar Gundermann sieht, dass sie mit Tränen kämpft. Aber er sagt nichts und nimmt die Zeitung vor.
Konstanze ist eingeschlummert; nun lässt er das Zeitungsblatt sinken und sieht hinüber. Sie ist erschöpft — von was? Erregung? Wer ist Gerhard Stein?
Im Schlummer hält sie die grosse silberne Tasche fest, fest im Schoss. Er lächelt. Schauspielerinnen haben immer so einen kleinen Koffer bei sich. Da sind die Geheimnisse drin. Die grossen und die kleinen.
Oskar fühlt: er reist mit einem Bündel von Geheimnissen. Wie wenig scheint das Wort: „Heinrich war verheiratet.“ Und jetzt ein grosses Durcheinander von wilden, sich widersprechenden Tatsachen. Wie schrieb er noch? „Meine Frau ist am Theater —“ — „ist am Theater“. Man denkt: ein kleines Hascherl oder ein Talent — nichts von dem: eine ausrangierte junge Dame. Soll man sie wieder einrenken? Wird es sich lohnen? Kann sie es sich gefallen lassen?
Er schaut hinaus auf die vorbeigleitende grüne Landschaft. Man rutscht im Lehnstuhl über die Wiese, der alte Mann, das junge Weib. Weit haben wir’s beide nicht gebracht, Konstanze. Ich bin dem Ende näher. Du aber hast den weiten Weg, der zu nichts führt. Armes Menschenkind! Schlaf’ — das beste noch. Gestern hat sie gewacht, mit festem Sinn Entschlüsse gefasst, gepackt. Dann die Unterredung mit dem Direktor, die Anordnungen. Nun ist Schlaf alles, im Schlaf zu Hause sein — zu Hause auf einer dunkeln, ungewissen Fahrt.
Wenige Stationen vor München erwacht sie mit einem Kinderlächeln.
„Sie verzeihen, Herr Gundermann —“
„Wenn Sie nur gut geschlafen haben, Konstanze, Sie sehen noch so müde aus.“
Konstanze blickt hinaus.
„Die Nacht mit dem Packen war nicht so schlimm. Aber eine Stunde voller Aufregungen!“
Oskar fragt vorsichtig: „Herr Stein?“
Sie zieht die Lippen ein: „Er will mir wohl. Er glaubt, ich hätte kein Geld, und wollte es mir aufzwingen.“
„Sie haben recht, Konstanze, dass Sie es nicht genommen haben. Ich trage genug bei mir, um alle Ihre Wünsche zu befriedigen.“
Sie schüttelt den Kopf.
„Zunächst wird es ja reichen.“
Und leise fügt er hinzu: „Nicht überall kann man nehmen, ohne sich zu verpflichten.“
München. Oskar Gundermann muss sich in den Kaffeehäusern herumtreiben, bis Konstanze das Notwendige besorgt hat. Erst auf dem Bahnhof wollen sie sich zum Nachtzug treffen. Er steht schon an der Schranke und wartet und erkennt nicht die schlanke Frau im tiefschwarzen Schleier.
„Da bin ich, Herr Gundermann.“
„Mein liebes Kind —“
Ihre Augen sind so warm.
„Erst kam mir das Ganze vor wie eine Maskerade. Nun aber fühle ich mich doch hinter meinem Schleier geborgen. Und es ist gut, dass ich nun Zeit habe, zurückzudenken. Auch ein Kleid gibt uns Schutz für unsere Gefühle. Ich habe es nie geglaubt —“
Auf dem Anhalter Bahnhof ist zum Empfang nur Fritz erschienen. Als er der schwarzen, tief verhüllten Gestalt helfend die Hand entgegenstreckt, ist ihm sonderbar, ein bisschen unheimlich zumute. Seine Sinne nehmen nur einen ganz feinen Duft wahr.
Mit ihrer energischen Hand schlägt Konstanze den Schleier zurück. Nun sieht auch sie erst richtig den Bruder Heinrichs, und er sieht die atmende junge Frau, die nicht am Tode des Gatten starb.
Rasch gehorcht er der plötzlichen Regung, sie um das vertraute Du zu bitten.
„Heinrich wird dir gesagt haben, wie wir Brüder uns liebten. Und ich werde dein Bruder, Konstanze.“
Sie braucht nicht viel zu sagen, sie hat diese grossen unmittelbaren Augen.
Während Onkel Oskar das Gepäck zum Wagen besorgt, folgt Fritz abermals einer plötzlichen Regung, die er beim Sprechen sofort bedauert, aber er sagt es:
„Die Eltern freuen sich so, dass du gekommen bist. Eine unserer Verwandten kennst du ja wohl —“
Wird nicht Konstanze einen Schatten bleicher?
„Agnes Gundermann?“
Klang ihre Stimme nicht ein bisschen unsicher?
„Sie ist jetzt verheiratet, Agnes Thüssing.“
„Ja, richtig — Heinrich erzählte mir —“ Nach einigem Besinnen fügt sie entschlossen hinzu: „Uebrigens konnte ich mir denken, dass Agnes mir nicht sehr herzlich entgegenkommen wird.“
„Deshalb sagte ich dir, Konstanze, ich bin dein Bruder.“
Nun nimmt er ein Lächeln, aber ein halb schmerzliches, halb verächtliches wahr.
„Ich danke dir, Fritz. Aber in diesem Falle brauche ich keinen Schutz. Ich danke dir nochmals, Fritz, denn gute Meinung tut immer wohl. Aber es droht mir keine Gefahr. Onkel Oskar hat mir auf gute, liebe Art gesagt, es wäre meine Pflicht, zu Heinrichs Eltern zu gehen. Also tue ich meine Pflicht. Was Agnes und ich gegeneinander haben, dafür gibt es sozusagen keine Dokumente. Mädelgeschichten — längst verjährte. Und überdies zweierlei — erstens kann ich für jede meiner Handlungen einstehen, und dann bin ich immer mir selbst gegenüber verantwortlich, nicht wahr? Ich komme als freier Mensch, und ich werde als ein freier Mensch gehen.“
„Nicht zu bald — nicht zu bald,“ sagt Fritz herzlich.
Und sie lächelt mit traurigen Augen noch freier.
„Jedenfalls wird es nicht von Agnes Thüssing abhängen.“
Dann kommt Onkel Oskar mit einer Blechmarke für das Auto zurück.
Im Treppenflur schliessen Robert und Mathilde die Frau des Sohnes in die Arme. Sonderbar, man bereitet sich vor, man denkt sich aus, aber die Frau eines Sohnes besteht nur in der Idee. Dann ist sie plötzlich da, atmend, weich, mit glatter Wange und suchenden, ängstlichen Augen — und so fremd und geheimnisvoll — und man küsst die fremde Wange. Man sagt Du und ist herzlich besorgt — um eine so Fremde. Man muss sich gewöhnen an Hand und Mund, an Geste, Stimme — an Kleider — es ist aufregend.
Читать дальше