Am anderen Morgen wurde ich früh geweckt und in das Zimmer eines ebenfalls weißbekittelten Mannes gebracht. Aber der mußte etwas Höheres sein; denn die anderen verhielten sich ihm gegenüber sehr ehrerbietig. Auch dieser Mann war freundlich zu mir; fragte mich, wie es mir gehe und wie ich mir die Zukunft vorstelle.
»Ha?« fragte ich.
»Na, ja!« Der Mann wurde verlegen: »Ich meine, hast du schon mal einen Wunsch gehabt?«
»Ein Fliegerabzeichen«, rief ich.
»Nein, das meine ich nicht. Hast du dir schon mal einen Beruf gewünscht?«
»Schreiner!«
»Schreiner? Na bitte; das ist doch schon etwas. Und möchtest du alles lernen – rechnen, lesen, schreiben?«
»Alles!« schrie ich.
»Das ist fein. Dann werden wir dich in die Schreinerei geben und anschließend und zwischendurch kommst du immer wieder in die Schule.«
»Zu Herrn Hofer?« fragte ich.
»Wer ist Herr Hofer?«
»Ein Lehrer.«
»Nein, wir haben hier keinen Lehrer Hofer. Aber wir haben andere Lehrer, die dir das Nötige beibringen werden.«
»Fein; kann ich gleich hin?« erkundigte ich mich.
»Sofort«, rief der Mann. »Herr Schneider?«
Ein weiterer Weißbekittelter stürzte herein: »Bringen Sie den Buben zu Meister Kranz. Er soll ihn sich ansehen und sagen, ob er ihn in der Schreinerei gebrauchen kann.«
»Jawoll«, sagte der andere.
»Also, mein lieber Simpel ... ich hoffe, es gefallt dir hier?«
»Ja, das hoffe ich auch, Herr Professor.«
»Direktor bitte! Aber wenn du willst – auch Professor!«
»Jawoll, Herr Führer!«
»Führer?« Der Direktor drohte mir mit dem Finger – »ich habe deine Geschichte gelesen: komme mir nicht auf diese Tour!«
Der Meister Kranz war ebenfalls nicht ohne. Er war bis jetzt der einzige, der keinen weißen Kittel trug – vielmehr eine blaue Schürze, so wie es sich für einen Schreiner gehörte. Er fragte nicht viel, schaute mich nur an, wies auf eine Hobelbank und sagte: »Da!«
»Ha?« fragte ich wieder.
»Nimm den Hobel in die Hand.«
»Was für einen Hobel?«
»Der da über dir in dem Kasten hängt.«
»Aber da hängen mehrere ...«
»Dann nimm einen – Simpel!«
»Gut! Und jetzt?« fragte ich, sah mich auch um, wer mich da noch beobachtete.
»Nimm das Brett, spanne es ein und hoble.«
»Sie verlangen aber Sachen, Herr Kranz.«
»Willst du Schreiner werden oder nicht?«
»Ich will!«
»Na also! Dann spann ein und hoble.«
Einspannen – und hobeln! Au – Ich rutschte mit dem Hobel ab. Das Brett stürzte zu Boden. Herr Kranz und der andere lachten.
»Komm«, hatte der Meister schließlich Mitleid, »ich will dir das Brett einspannen. Aber hobeln und den Hobel halten mußt du allein.«
»So«, sagte der Meister wieder: »Und jetzt komm da rüber.«
»Was ist da?« fragte ich.
»Maul halten, ich erkläre es dir sofort! Das ist der Leimofen. Da sind die Leimhäfen und darunter hängen die Zylinder, die mußt du jeden Morgen mit Hobelspänen vollstopfen.«
»Mache ich glatt!« sagte ich.
»Und jetzt da rüber«, zog mich der Meister fort. Der andere folgte, als sei er an mich angebunden. Wir standen vor einer Maschine: »Was steht da?« fragte der Meister.
»Wo?« grinste ich.
Herr Kranz schaute den anderen an, antwortete dann, nachdem dieser mit den Schultern zuckte, sich selber: »Ach so, kann nicht lesen. Das gehört natürlich dazu, Herr Menk. Das ist Ihre Aufgabe. Schreiben natürlich auch.«
Herr Menk, so hieß er also, der andere, nickte eifrig mit dem Kopf. Der Meister fuhr fort: »Du mußt über alles einen Bericht führen: das ist Pflicht – für die Prüfung!«
»Pflicht? Prüfung?« fragte ich und schaute von einem zum andern.
»Das wär’s ja wohl für das erste«, erklärte Herr Kranz und drehte sich einfach weg. Ich war mit Herrn Menk allein. Er führte mich wieder in den Hof und sagte: »Geh ein wenig spazieren; um zwölf wird gegessen.«
»Jawoll«, sagte ich. War er mir nun böse? Was hatte ich gemacht? Ich wollte doch Schreiner werden. Und ich wollte alles lernen – lesen und schreiben.
Ich wurde dann auch untersucht, vorn und hinten abgeklopft, kam unter eine Maschine, die meine inneren Bewegungen registrierte, und ich traf nur auf zufriedene Gesichter. Ich war gesund, hieß es; das dauerte nur einige Jahre, bis ich völlig gesund war, war damit gemeint.
Dieser Meister Kranz kostete mich dann schon Kraft. Er war ein Dickkopf. Und ich auch. Wir waren nicht die einzigen in der Schreinerei. Außer uns waren noch andere von der Anstalt und Gesellen von draußen da.
Aber alle bleiben blaß. Bis auf den Meister. Er dirigierte mich an den Leimofen, wies mir die Hobelbank an und hieß mich zinken. Und ich zinkte zunächst ohne Sinn, dann aber Schubladen. Und er schaute sie sich an – zufällig vor dem Leimofen – und schüttelte den Kopf.
»Was ist das?« fragte er.
»Was?« fragte ich zurück.
»Das soll halten?« sagte er.
»Das hält«, sagte ich.
»Das hält nicht«, schrie der Meister, warf die Schublade, die ich einige Tage lang mühsam zusammengezinkt hatte, zu Boden und rannte weg.
Im gleichen Augenblick – Gesellen und andere Lehrlinge schauten zu – stürzte ich mich auf die Schublade, ergriff sie und warf sie dem Meister hintendrein. Dazu noch eine Schraubzwinge, die gerade daneben lag. Nichts traf. Zum Glück, sage ich heute. Trotzdem wurde ich von Wärtern ergriffen und in eine Zelle gebracht. »Es ist nichts«, wehrte ich mich.
»Es ist nichts«, sagte auch der Direktor. Ich wollte es nie mehr tun, versprach ich. Und das war mir ernst. So schnell wie möglich lernen, sagte ich mir; so schnell wie möglich gesund werden – und so schnell wie möglich raus, egal wie! Das hier war nicht meine Welt; vielleicht hatte ich mal dazugehört – nun aber nicht mehr. Nun wollte ich auch nicht mehr.
Und im Laufe der Zeit sind immer mehr Leute von draußen gekommen, und ich habe gelernt, zu unterscheiden zwischen Leuten von draußen und drinnen, und ich wollte raus, ich wollte aber auch von drinnen so viel wie möglich mit herausnehmen. Da kamen Leute zu Besuch, zur Besichtigung, starrten uns an, nahmen die Parade ab, und ich wurde immer ärgerlich. Warum bin ich hier? Warum starren die mich so an? Was habe ich getan? Warum wirft man mir das immer noch vor? Und ich wurde befragt und weiterhin abgetastet, und ich gab Auskunft und schwieg. Und ich lernte, das war es vor allem: ich suchte nach Leuten, die mir helfen konnten. Und weil ich mich so gut benahm, nicht auffiel, nicht störte, durfte ich raus – hatte freien Auslauf wie ein Schaf, wie eine Kuh, wie ein Pferd. Und ich wollte das nicht ausnützen – oder doch ausnützen: ich wollte zeigen, daß ich es verdiente.
Dann bekam ich auch Besuch von meiner Mutter. Sie hatte mir zu essen mitgebracht, gerauchte Schinkenwurst und Brot; Äpfel und Schokolade –
»Kriegst du auch genug zu essen, Bua«, fragte sie.
»Jo, Mamma«, anwortete ich.
»Läßt man dich auch raus?«
»Jo! Jeda Daag.«
»Ond wo gohscht noo?«
»Ich gang spaziera. Oder bsuach da Xaver.«
»Wen?«
»Xaver! Des ischt a Einsiedler em Wald. Der verzehlt mir sehr viel.«
»Glaub et älles, waanr sait, Bua. Du woischtjo, wia se schwätzet, dia verzehlat so viel: aber wenn de nooguggescht, no ischt ällas verstonka ond verloga.«
»Der hot a Hütte em Wald.«
»Wissat des dia Herra en dr Anstalt?«
»Dia wissat des.«
»Ond duldats?«
»Ond duldats – sagat sogar, des ischt guat.«
»No willi ao niggs saaga. Do, i hao dr äbbes mitbroocht. Des mogscht doch: grauchta Schenkawurscht ...«
»Ha jo! Nadierlich moge des. Danke, Mamma!«
Xaver oder Ich, du, er, sie, es
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