1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Grynäus hielt inne und liess den Blick über seine Gemeinde schweifen. Erwartete er Beifallskundgebungen? Auch der Landvogt musterte neugierig die Gesichter der Leute, in denen weder Freude noch Ablehnung erkennbar waren.
Dorothea Staehelin war berührt. Ihr schien, die Obrigkeit habe mit der Abschaffung der Leibeigenschaft die Zeichen der Zeit erkannt und das wichtigste Postulat der Menschenrechte erfüllt. Sie suchte unter den Gläubigen, drüben auf der Männerseite, ihren Pächter, dem sie die neue Freiheit von Herzen gönnte. Aber Mathis Jacob hatte die Arme vor der Brust verschränkt und starrte finster zum Pfarrer hinauf. Und als dieser zögernd hinzufügte, dass alle bisherigen Verpflichtungen der Landleute gegenüber der Stadt auch in Zukunft zu erfüllen seien, lächelte er spöttisch.
Als Mathis am Neujahrsmorgen 1791 mit zwei grossen Kesseln Milch aus dem Stall trat, wo er mithilfe von Peter und Paul seine drei Dutzend Kühe gemolken hatte, sah er, wie Sämi in seiner neuen Uniform mit geschultertem Holzgewehr hinter Salome über den Hof marschierte. Mathis schüttelte den Kopf und wandte sich dem Abgang zum Käsekeller zu, aber Dorothea Staehelin vertrat ihm den Weg.
«Vielleicht wird er jetzt, wo die Baselbieter die Freiheit erlangt haben, doch einmal Offizier, was meint Ihr?»
«Freiheit?!» Er lachte unfroh. Dann stellte er die beiden Kessel auf den Boden. Man wisse schon seit zwei Tagen vom Erlass des städtischen Rats. Ein Wort habe man gestrichen, ein einziges Wort, mehr nicht. Alles andere sei geblieben. Er zählte auf: «Die Bodenzinsen, den Zehnten, die Taxen für jeden Wisch, den der Landvogt schreibt, die Ehesteuer, die Waldgebühren, selbst das Fasnachtshuhn. Auch den Frondienst gibt es noch. Wenn es Strassen und Brücken zu reparieren gilt oder wenn etwas im Schloss in Ordnung gebracht werden muss, dann interessiert es die Obrigkeit einen Dreck, ob wir mitten in der Ernte sind oder nicht. Wir bleiben Untertanen. Wir haben zu schweigen und zu gehorchen. Auch die politischen Rechte will man uns nicht gewähren.»
«Politische Rechte?» Dorothea war schockiert. Es war für sie unvorstellbar, dass ungebildete Bauern im Rat mitreden und mitbestimmen wollten.
«Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens», zitierte Mathis Artikel sechs der Menschenrechte. «Alle Bürger haben das Recht, persönlich oder durch ihre Vertreter an seiner Gestaltung mitzuwirken. Glaubt Ihr, man habe das in Basel begriffen?», fragte er.
Erneut stellte Dorothea fest, dass man die Menschenrechte auf der Landschaft wohl besser kannte, als manchem Ratsherrn lieb sein mochte. «Man kann nicht alles auf einmal haben», sagte sie. Und als ob sie spürte, dass das ein ungeschicktes Argument war, fügte sie hinzu: «Immerhin kann der Landvogt Eure Söhne, wenn sie sich einmal verehelichen wollen, nicht mehr so schikanieren, wie Euch Franz Brodbeck vor Eurer Heirat schikaniert hat.»
Mathis’ Gesicht verfinsterte sich. Die Erinnerung an jenen demütigenden Vorfall im Schloss war eine offene Wunde, die nicht verheilen wollte. Er bückte sich und nahm seine beiden Milchkessel wieder in die Hände. «Freiheit», sagte er. Es klang, als ob er ein Lachen unterdrücke. Dann stieg er die Treppe zum Käsekeller hinunter.
Sie sah ihm nach. Nicht zum ersten Mal zog sie den Vergleich zwischen diesem stattlichen, ernsthaften Mann, der sich über so vieles Gedanken machte, und ihrem ehemaligen Gatten, der als vermögender Schürzenjäger ein Lotterleben führte. Sie seufzte. Hatte Barbara Jacob, diese Landpomeranze, das bessere Los gezogen als sie, die reiche Fabrikantentochter?
Am frühen Morgen des sechsten Januars wurde Dorothea von hellen Kinderstimmen geweckt, die ein Lied sangen:
Die Heiligen Drei Könige mit ihrigem Stern ,
sie sueched den Heiland und hätten ihn gern .
Sie ritten zusammen das Rainele us ,
sie kamen vor König Herodesse Hus .
Sie stieg aus dem Bett und trat im Hemd ans Fenster ihrer Kammer. Mit ihren warmen Händen taute sie die Eisblumen auf, die sich in der Nacht am Glas gebildet hatten. Am Himmel leuchtete hell und klar der Morgenstern.
Vier Kinder standen vor dem Haus. Ein etwa fünf oder sechs Jahre altes Mädchen hielt einen Stecken, an dem ein Stern aus Karton befestigt war. Hinter ihm standen ein etwas älterer Knabe und zwei halbwüchsige Mädchen, von denen eines eine Fackel trug. Die drei Grösseren hatten farbige Tücher um ihre Schultern gelegt und trugen gelb bemalte Kronen auf dem Kopf. Das Gesicht des Jungen war geschwärzt.
«Warum singen die Kinder?» Auch Salome war erwacht und drängte sich jetzt an die Mutter.
«Das sind die Heiligen Drei Könige», erklärte Dorothea. «Sie bitten um eine milde Gabe für arme Kinder oder für sich und ihre Familien. Aber sei jetzt still, hör lieber zu.»
Herodes schaute zum Fenster hinaus:
Ihr Herren Gesellen wo wöllet ihr hin?
Nach Bethlehem führt uns unser Stern ,
wir wollen Maria und s Chindeli sehn .
Drüben im Wohnzimmer rumorte Hanna, die den Ofen einheizte.
«Komm herüber, Mädchen», rief Madame Staehelin. Als Hanna unter der Türe stand, fragte sie: «Wer sind die kleinen Sternsinger da unten?»
«Das sind dem Schuh-Heini seine. Sie kommen jedes Jahr hierher.»
Dorothea wusste, dass mit dem Schuh-Heini Heinrich Bidert, der Schuhmacher in Bärenwil, einem Weiler südlich von Langenbruck, gemeint war. Sein Einkommen war schmal, und er musste sich, um seine vier Kinder durchzufüttern, als Tagelöhner ein Zubrot verdienen. Das Dreikönigssingen war für die Familie wohl ein hochwillkommener Brauch.
Jetzt trat der kleine Samuel Jacob aus der Türe. Er schleppte einen grossen Korb mit sich, dessen Inhalt mit einem weissen Tuch zugedeckt war. Er stellte ihn vor die Sternenträgerin.
«Was mag da drin sein?» Dorothea verfolgte die Szene, die sich vor ihren Augen abspielte, aufmerksam.
«Eine halbe Speckseite, Würste, ein Käse, Butter, Birnen- und Apfelschnitze hat die Mutter gestern Abend hineingetan», zählte Hanna auf. «Und der Vater hat für den Schuh-Heini Tabak und eine Flasche Likör dazugelegt. Er solle auch einmal eine Freude haben, hat er gesagt.»
«So, so, Tabak und Likör», murmelte Madame Staehelin. Dann gab sie sich einen Ruck. Sie ging zur Truhe und holte einen Louis d’or heraus. Die Bidert-Kinder wandten sich mit ihrem Korb bereits zum Gehen. Dorothea drückte Hanna die Goldmünze in die Hand. «Lauf, Mädchen, und gib das dem Buben! Seine Eltern werden es brauchen können.»
Sie beobachtete, wie Hanna dem Mohren das Geldstück, das gegen vierzehn Pfund wert war, übergab.
Der Junge rief seine drei Schwestern zurück und zeigte ihnen, was er erhalten hatte. Und während das Goldstück von Hand zu Hand wanderte, sprachen alle aufgeregt auf Hanna ein, die mit der Hand zum Fenster wies, hinter dem Dorothea Staehelin und Salome standen. Sie winkten der vornehmen Dame und ihrer Tochter und zogen mit ihren Schätzen weiter.
Da Dorothea an diesem Dreikönigstag in die Stadt zurückfahren wollte, bat sie ihren Pächter, sie und Salome nach dem Frühstück nach Waldenburg zu bringen. Der Kutscher ihres Bruders sei noch immer nicht in der Lage, mit seiner Chaise den Weg über die vereiste Hauensteinstrasse zu bewältigen. Sie habe ihm deshalb ausrichten lassen, um elf beim Pfarrhaus auf sie zu warten.
Mathis spannte eines seiner beiden kräftigen Pferde vor den Schlitten, auf dem er zuvor das Gepäck von Mutter und Tochter verstaut hatte. Gegen zehn Uhr war er so weit. Madame Staehelin und Salome verabschiedeten sich von Barbara und den Kindern. Dorothea hob Samuel, der sich seit Silvester nicht mehr von seiner Uniform hatte trennen wollen, hoch: «Auf Wiedersehen, bis im Sommer, mein kleiner Soldat.» Sie küsste ihn auf beide Wangen.
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