Auch die Mutter sprach nicht mit ihr. Sie behandelte sie wie Luft. «Sag ihr», wies sie Martha an, «sie soll hinaufgehen und ihre Arbeit machen.»
Hanna schlich mit hängendem Kopf davon. Am Fuss der Treppe waren noch Blutflecken. Sie holte draussen am Brunnen einen Kessel Wasser und schrubbte den Boden, bis nichts mehr zu sehen war.
Madame Staehelin stand oben und schaute ihr zu. Dann befahl sie ihr, die Nachttöpfe zu leeren und die Wohnung zu putzen. «Später gehst du mit Salome nach draussen und pflückst mit ihr einen Strauss Schafgarben. Ich brauche die Blüten für Samuel.» Ihre Stimme klang wie immer, gleichgültig, so, wie man eben mit einer Magd sprach.
«Wie geht es ihm?», wagte Hanna zu fragen.
«Er hat die Nacht überstanden. Geh jetzt an deine Arbeit.» Die Frau verschwand in der Kammer, in der Sämi lag.
Hanna quälte sich mit Vorwürfen. Hätte sie den Kleinen doch nicht am Arm festgehalten, dann hätte er sich nicht losreissen müssen und wäre nicht die Treppe hinuntergestürzt. Wenn sie nach Waldenburg hinuntergeschickt wurde, um bei Pfarrer Grynäus die von Madame Staehelin gelesenen Bücher zurückzugeben und neue mitzunehmen, so drückte sie sich mit gesenktem Kopf den Häusern entlang durch die Strassen. Sie war überzeugt, gezeichnet zu sein, so wie Kain, der seinen Bruder Abel erschlagen hatte, von Gott gezeichnet worden war. Sie glaubte, jedermann könne erkennen, dass sie schuldig war.
Nachts schreckten sie Träume aus dem Schlaf, der sie nur für kurze Zeit erlöste. Immer wieder überschlug sich Sämi vor ihren Augen auf der Treppe und blieb regungslos liegen. Manchmal schrie sie auf. «Sei still!», fauchte dann Martha, die schlafen wollte. Hanna mochte kaum mehr essen. Niemand kümmerte sich darum.
Einmal, als er auf Krankenvisite kam, bemerkte der Doktor das Mädchen, das im Hof stand und ihn mit grossen Augen verzweifelt ansah. «Was ist denn mit dir, Hanna?», fragte er, erschreckt über ihr blasses Aussehen. «Du wirst doch nicht etwa auch krank sein?»
Es war seit Tagen das erste Mal, dass jemand ein Wort an sie richtete, in dem eine gewisse Wärme lag. Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen.
«Na, na», brummte der Arzt. Er legte den Arm um ihre schmalen Schultern, führte sie zur Bank vor dem Haus und liess sie neben sich ausweinen. «Willst du mir nicht sagen», fragte er endlich, «was dir so grossen Kummer macht?»
«Ich bin schuld, wenn Sämi stirbt!», brach es aus ihr heraus, und schniefend erklärte sie dem Doktor, dass sie doch nicht gewollt habe, dass der Bruder die Treppe hinunterfalle. Sie habe doch versucht, ihn zurückzuhalten.
Der Arzt, der ein einfühlsamer Mensch war und wusste, wie sehr sich eine Kinderseele quälen konnte, zog Hanna näher an sich und strich ihr über den Kopf. «Du bist nicht schuld.» Er betonte jedes einzelne Wort. «Du bist nicht schuld.»
Er blieb noch eine Weile neben ihr sitzen. «Ich muss jetzt zu deinem kleinen Bruder», sagte er schliesslich. «Er wird den Schädelbruch überleben, aber ich weiss noch nicht, ob er sich völlig erholt.» Dann fasste er Hanna unter dem Kinn und zwang sie, ihn anzuschauen. «Aber denk immer daran: Du bist nicht schuld.» Er strich ihr nochmals über den Kopf und stand dann auf.
Eine halbe Stunde später beobachtete Hanna, wie der Doktor unter der Haustüre mit den Eltern und Madame Staehelin sprach. Sie sahen immer wieder zu ihr hinüber. Als er ging, winkte er ihr zu.
Von da an redete die Mutter wieder mit ihr. Sie tat, als sei nichts geschehen. Auch der Vater strich ihr jetzt wieder ab und zu über die Wangen, so verlegen wie vor dem Unglück, denn er hatte seine Gefühle nie zeigen können. Hanna lächelte verstohlen. Zum ersten Mal seit langem.
Und dann, vier Wochen nach dem schrecklichen Unfall, kam jener Tag, an dem Madame Staehelin die Tür zu Samuels Kammer öffnete und Hanna zu sich rief. «Der kleine Mann scheint jetzt wieder hergestellt zu sein. Jedenfalls hat er mich erkannt und dann nach dir verlangt. ‹Wo ist Hanna›, hat er als Erstes gefragt. Er will dich sehen, nicht die Mutter, nicht den Vater, nur dich.»
Zu Silvester 1790 lag das Land am Oberen Hauenstein unter einer dicken Schneedecke. Auf den Waldweiden waren Spuren von Wildtieren zu erkennen, die sich nachts, getrieben von der Hoffnung auf etwas Essbares, in die Nähe des Hofs wagten. Die bizarren Felsformationen auf der Gerstelfluh trugen weisse Kappen. Auch auf den Ästen der Bäume lag Schnee.
Tags zuvor war überraschend Dorothea Staehelin mit Salome eingetroffen. Die Kutsche ihres Bruders hatte in Waldenburg umkehren müssen. Die Passstrasse war vereist und nicht befahrbar. So waren sie, in Begleitung des Knechts von Pfarrer Grynäus, der ihr Gepäck trug, zu Fuss nach Sankt Wendelin hinaufgestiegen. Sie wolle das alte Jahr auf ihrem Hof ausklingen lassen und hier auch die ersten Tage des neuen verbringen, hatte sie gesagt.
Mathis befahl Hanna, den Kachelofen in der oberen Wohnung einzuheizen. Einstweilen wärmten sich Mutter und Tochter in der Stube der Jacobs auf. Während Barbara Glühwein und Gebäck auftischte, kramte Madame Staehelin die üblichen Geschenke aus ihrer grossen Reisetasche: Tabak, Likör und Süssigkeiten. Für Samuel aber hatte sie etwas Besonderes mitgebracht: eine für seine Grösse passende Uniform der Basler Landmiliz mit dunkelblauen Hosen und einem dunkelblauen Frack mit scharlachroten Auf- und Überschlägen. Dazu einen schwarzen Dreispitz, Gamaschen, ein weisses Bandelier sowie Flinte und Säbel aus Holz. Sie half Samuel, die Sachen anzuziehen. «Ist er nicht ein süsser Soldat, mein kleiner Goldschatz?», wandte sie sich an die Eltern. «Er wird gewiss einmal ein schmucker Offizier.»
Mein kleiner Goldschatz. Mein! Barbara Jacob hob die Brauen. Dorothea bemerkte es nicht. Sie liess den kleinen Burschen in der Stube auf und ab marschieren. «Links – links – links!», kommandierte sie lachend. Salome klatschte in die Hände.
«Das sollte jetzt reichen. Er wird das Exerzieren noch früh genug verfluchen», sagte schliesslich Mathis. «Und Offizier wird er auch nicht, höchstens Sergeant.» Er wusste, wovon er sprach. Es gehörte zu den Pflichten der leibeigenen Baselbieter, im Krieg ihre Haut für die Obrigkeit zu Markte zu tragen. Jeder Mann zwischen dem sechzehnten und sechzigsten Altersjahr hatte in einem der beiden Regimenter der Landmiliz Dienst zu leisten. An bestimmten Sonntagen wurden sie nach der Predigt auf dem Gemeindeanger gedrillt. Die Offizierslaufbahn war ausschliesslich Stadtbürgern vorbehalten.
Mit Ausnahme von Salome und Samuel, die man in der Obhut von Hanna zurückliess, nahmen die Leute von Sankt Wendelin in der Silvesternacht den weiten Weg zur Kirche unter die Füsse.
Pfarrer Grynäus legte seiner Predigt Vers acht aus dem siebten Kapitel des Matthäusevangeliums zugrunde: Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan . Er zitierte aus dem Bittbrief, den die Liestaler Bürgerschaft im Juli des vergangenen Jahres an die Basler Obrigkeit gesandt hatte, in dem sie den vor Monaten eingereichten und immer noch nicht behandelten Antrag des Ratsherrn Abel Merian unterstützten und unsere Gnädigen Herren demüthigst gebeten hatten, Hochdieselben möchten dero Unterthanen die Leibes Freÿheit und mit Verbundenes in Gnaden schenken .
«Denn wer da bittet, der empfängt», wiederholte Theophil Grynäus den Predigttext, um dann mit bewegter Stimme zu erklären, der Rat der Stadt Basel habe vor vier Tagen, am 27. Dezember 1790, beschlossen, dass die Leibeigenschaft, mit welcher die Landleute der Stadt zugethan sind, aufgehoben und zernichtet sey und sie nebst ihren Nachkommen auf immer leibsfreye Unterthanen erklärt seyn .
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