Und dann, Shandon war doch nicht Kapitän des Schiffes, von dem nach Gott alles abhing; Grund genug, dass man über seine Befehle disputierte, und vom Disputieren bis zur Gehorsamsverweigerung ist nur ein leichter Schritt.
Die Unzufriedenen gewannen bald den ersten Maschinisten für sich, der bisher sich streng an seine Pflicht hielt.
Am 16. Mai, sechs Tage nachdem der Forward bei der Eisdecke angelangt war, hatte Shandon noch keine zwei Meilen nordwärts zurückgelegt. Man war mit dem Schicksal bedroht, im Eise stecken zu bleiben. Das war ein bedenklicher Fall.
Gegen acht Uhr gingen Shandon und der Doktor in Begleitung des Matrosen Garry aus, um auf der unermesslichen Ebene zu rekognoszieren; sie waren bedacht, sich nicht allzu weit von dem Schiff zu entfernen, denn es wurde schwierig, sich in den weißen Einöden, deren Ansichten sich unaufhörlich änderten, Merkpunkte zu bilden. Die Strahlenbrechung hatte sonderbare Wirkungen, sodass der Doktor darüber staunte; wo er meinte, nur einen Fuß weit springen zu müssen, musste man über fünf bis sechs Fuß hinaus; oder es fand der entgegengesetzte Fall statt: In beiden Fällen aber kam es auf den glasharten Eisstücken zum Niederfallen, was, wenn auch nicht gefährlich, doch immer beschwerlich war.
Shandon suchte mit seinen Begleitern fahrbare Wasserwege; in einer Entfernung von drei Meilen vom Schiff erstiegen sie mit ziemlicher Beschwerde einen Eisberg, welcher dreihundert Fuß hoch sein mochte. Von hier aus schweifte ihr Blick über diesen wüsten Haufen, gleich den Trümmern einer Riesenstadt mit umgeworfenen Obelisken, zusammengestürzten Türmen und umgekehrten Palästen. Die Sonne zog mühsam ihre Kreise um einen mit Bergspitzen besetzten Horizont und warf lange, schiefe Lichtstrahlen ohne Wärme, als wenn nichtwärmeleitende Stoffe zwischen sie und dies traurige Land gedrungen wären.
Das Meer schien, soweit die Blicke nur reichten, völlig festgefroren.
»Wie kommen wir weiter?« fragte der Doktor.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Shandon, »aber wir kommen weiter, müssten wir auch diese Berge mit Pulver sprengen; ich lasse mich gewiss nicht durch diese Eisblöcke bis zum nächsten Frühjahr hier festhalten.«
»Wie das jedoch«, sagte der Doktor, »dem Fox fast in diesen nämlichen Gegenden passiert ist. Ei doch! Wir dringen durch … mit ein wenig Philosophie. Sie werden sehen, das ist so viel wert wie alle Maschinen!«
»Man muss zugeben, dass dieses Jahr nicht eben günstige Aussicht darbietet.«
»Unstreitig, Shandon, und ich bemerke, dass das Baffins-Meer die Neigung zeigt, in den Zustand vor 1817 zurückzukehren.«
»Meinen Sie, Doktor, es sei nicht immer so wie jetzt gewesen?«
»Nein, lieber Shandon: Von Zeit zu Zeit haben ungeheure Eisgänge stattgefunden, welche die Gelehrten nicht zu erklären wussten. So ist bis zum Jahre 1817 dieses Meer beständig versperrt gewesen, als eine ungeheure Überschwemmung stattfand und diese Eisberge in den Ozean trieb, welche meistens an der Bank von New-Foundland zerbröckelten. Von der Zeit an ist die Baffins-Bai fast frei gewesen und ward zum Sammelplatz der Walfischjäger.«
»Also«, fragte Shandon, »sind seit dieser Zeit die Nordfahrten leichter gewesen?«
»Ganz außerordentlich; aber man bemerkt, dass seit einigen Jahren die Bai Neigung zeigt, wieder fest zu werden und sich, vielleicht für lange Zeit, den Forschungsreisenden zu verschließen. Umso mehr Grund also, dass wir so weit als möglich vordringen. Und doch gleichen wir ein wenig den Leuten, welche sich in unbekannte Gänge hineinwagen, deren Türen sich unablässig hinter ihnen wieder schließen.«
»Würden Sie mir raten zurückzuweichen?« fragte Shandon, indem er tiefer in des Doktors Augen zu lesen versuchte.
»Ich! Ich habe nie verstanden, einen Fuß rückwärts zu tun; und sollte man nie wieder zurückkommen, so sag’ ich vorwärts! Nur müssen wir uns klarmachen, dass wir, wenn wir unvorsichtig sind, genau wissen, welcher Gefahr wir uns aussetzen.«
»Und Sie, Garry, was halten Sie davon?« fragte Shandon den Matrosen.
»Ich, Kommandant, würde gradeaus vorwärts gehen; ich schließe mich des Herrn Clawbonnys Meinung an; übrigens tun Sie, was Ihnen beliebt; kommandieren Sie, wir werden gehorchen.«
»Nicht alle reden wie Sie, Garry«, fuhr Shandon fort; »es haben nicht alle Lust zu gehorchen! Und wenn sie sich weigern, meine Befehle auszuführen?«
»Ich habe Ihnen meine Ansicht geäußert, Kommandant«, erwiderte Garry mit kalter Miene, »weil Sie mich um dieselbe befragt haben; aber Sie sind nicht daran gebunden.«
Shandon gab keine Antwort, er prüfte achtsam den Horizont und begab sich wieder mit seinen beiden Gefährten auf das Eisfeld.
Elftes Kapitel – Der Teufelsdaumen
Während der Abwesenheit des Kommandanten hatten die Bootsleute verschiedene Arbeiten ausgeführt, sodass es nun dem Schiffe möglich war, sich dem Druck der Eisfelder zu entziehen. Pen, Clifton, Bolton, Gripper, Simpson nahmen diese mühevolle Verrichtung vor; der Heizer und die beiden Maschinisten mussten sogar beihelfen, denn vom Augenblick an, wo ihr Dienst bei der Maschine nicht erforderlich war, wurden sie wieder Matrosen und konnten als solche zu allen Dienstleistungen an Bord zugezogen werden.
Aber das geschah nicht ohne große Aufregung.
»Ich erkläre, dass ich jetzt satt daran habe«, sagte Pen, »und wenn binnen drei Tagen der Eisbruch nicht eintritt, schwöre ich zu Gott, dass ich die Hände in den Schoß lege!«
»Die Hände in den Schoß legen«, erwiderte Gripper, »da wäre es doch besser, man brauchte sie, um rückwärts zu kommen! Meinst du, wir hätten Lust, hier bis zum künftigen Frühjahr zu überwintern?«
»Wahrhaftig, das wäre ein traurig Winterquartier«, versetzte Plover, »denn das Schiff ist nach allen Seiten hin schutzlos!«
»Und wer weiß«, sagte Brunton, »ob selbst im nächsten Frühjahr das Meer freier sein wird als heute?«
»Es handelt sich gar nicht um nächstes Frühjahr«, entgegnete Pen, »wir haben heute Donnerstag; wenn bis Sonntag früh die Bahn nicht frei ist, fahren wir rückwärts nach dem Süden.«
»Bravo!« rief Clifton.
»Seid ihr damit einverstanden?« fragte Pen.
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