Mutlu steht da und hat einen Moment vergessen, wohin.
Warum will ein Mensch sich selber quälen?
Mutlu hat damals gleich das Bad herausgerissen, die Kacheln, jetzt hängt dort Elektromüll aus den Wänden. Den Rest hat Mutlu so gelassen. Die ganze Wohnung ist ein Museum. Nur Barış und Burak, die altern, die werden immer älter, die verweigern sich dem Museum. Sind keine Exponate. Lassen sich nicht abstauben.
Neulich ist Mutlu nachts aufgewacht, weil sein Penis unter der Bettdecke hart geworden war, nach oben stakte. Er hatte dagelegen und sich nicht bewegt. Am nächsten Morgen ist er wieder zur Arbeit gegangen. Cemal hatte die Warenbestellung in den Sand gesetzt, und es gab schon wieder zu viele Aprikosen.
Die Versammlung fängt in zehn Minuten an, und Mutlu dreht den Schlüssel im Schloss. Er hat sich einen Zettel geschrieben, damit er nicht vergisst, was er sagen will. Den Stift hattest du immer im Schlafzimmer aufbewahrt. Weil Mutlu vergesslich ist. Lesen macht ihm Freude, aber zum Schreiben fehlt ihm meistens die Lust.
Bei meiner Grundsteinlegung war alles schon vorbei. Dabei war das Wetter so schön. Wo ich hinsollte, war ein Loch.
Schon wieder kamen Journalisten, aber diesmal hatten sie keine freudige Aufregung zu verbreiten, keine Utopie, sie sperrten ihre kleinen rosa Münder auf stattdessen, und die Sätze hatten sie schon vorgeschrieben, zu Hause in der Redaktion.
Man würde die Einwohner verdrängen! Luxus hieß es erst, dann Sozialwohnung. Ein Investor war dick, einer dünn. Man konnte Geld anlegen in mich. Die schöne Altbausubstanz, heulten die ersten. Dabei hatte Willy Brandt zehn Jahre zuvor noch unter Jubel verkündet, man dürfe kein Geld mehr investieren in überalterte Gebäude. Neu, macht neu, Genossen!
Das alles – das hatte nichts mit mir zu tun!
Man stopft Geld in etwas, immer mehr, und dann ärgert man sich, wenn unten Kacke herauskommt. Ich war ein Baby. Man hätte es wissen müssen: Mein Stillstuhl war aus Beton.
Die Stühle stehen richtig, Marianne ist zufrieden. Sind die Mikrofone eingeschaltet? Ja, die Mikrofone sind eingeschaltet. Wunderbar, wie das heute funktioniert, die Zusammenarbeit im Stadtteilmuseum. Das ist natürlich nicht immer so. Aber wenn es mit dem Kotti so schwierig ist, muss man zusammenhalten, irgendwas muss man schließlich tun dagegen, gegen die eigene Angst auch. Die wird ja gefüttert von Einsamkeit und Nichtstun. Hat sie neulich zu Günther gesagt: dass wir da jetzt eben alle zusammenhalten müssen.
Ob Günther zugehört hat? Das fragt sie sich in letzter Zeit häufiger. Manchmal schaut er einfach so vor sich hin. So wie jetzt. Er kommt ja immer, zu jeder Veranstaltung, zu jedem Bürgergespräch. Aber dann sitzt er da und hat so glasige Augen. Früher hätte er das nicht auf sich sitzen lassen, dass die ganzen Türken das Wort an sich reißen, die Versammlung dominieren. Wollen immer allen ihre Geschichte erzählen, wie schlecht es ihnen geht. Dem Handel. Die Verdrängung.
Da regt sich Günther ja schon drüber auf, abends dann aber erst. Was sollen wir denn da sagen? Werden wir etwa nicht verdrängt? Gab’s hier nicht früher auch ein paar Läden, weißt du noch, die Metzgerei, andere, bevor die Gemüseläden kamen? Riecht unser Fahrstuhl nicht auch nach Pisse? Und was sollen wir überhaupt mit dieser ganzen komischen Spitzpaprika? Wo ist die gute alte Paprika, die runde, hin? Wohl zu fein für die alte, immer neu, immer schick, und dann aber im Fahrstuhl in die Ecke spucken. Und dieser Uringeruch überall. Und vor allem im Fahrstuhl. Was man selber halt nicht braucht, bei sich hui, bei anderen pfui.
Ach Günther, sagt sie dann. Jetzt reg dich nicht so auf. Wir haben doch hier ganz andere Probleme. Und überhaupt: benutzen doch alle denselben Fahrstuhl.
Aber recht hat er ja, zumindest teilweise, auch wenn sie das jetzt nicht so negativ sehen würde. In Kreuzberg, da hat sich eben einiges verändert. Manchmal weiß sie schon gar nicht mehr, wie es früher war, so anders ist es jetzt. Aber da hilft ihr die Arbeit im Stadtteilmuseum, da sieht sie Bilder, ein ganzes Archiv voller Bilder, als schon blass gewordene Erinnerungsstützen für ein fast vergessenes Damals. Neulich erst hat sie darüber nachgedacht und eine Liste erstellt. Nicht in echt, also drüber nachgedacht hat sie schon. Einfach mal mehr aufschreiben. Die Liste gibt es bisher nur in ihrem Kopf, vorerst sozusagen. Aber ordentlich angewachsen ist sie bereits, ewig könnte sie Sachen aufzählen. Zum Beispiel.
Was es früher mehr gab als heute: Wurststände waren anders, weniger Engländer, aber auch generell weniger Menschen, vor allem weniger Kinder und ganz vor allem weniger Jungen, Fässer zum Drauflehnen vorm Imbiss, nicht so schicki Alutische, Holzrollläden vor den Läden, nicht elektrisch. Straßen schmutziger und leerer, alles hatte mehr Platz: der Ort und die Menschen, und dann kam der Beton. Und die Türken hatten damals auch noch vollgestopfte VW-Busse, vollgestopft bis oben hin, und auf dem Dach die Koffer festgeschnallt für den Urlaub, das sah immer lustig aus und irgendwie heimelig, nicht wie jetzt glänzender Mercedes, hup hup, und dann ab mit Easyjet in den Urlaub.
Das Mikrofon knackt, die Bezirksbürgermeisterin hustet hinein, Günther schweigt.
Ach, da ist ja Mutlu, der Gute. Sitzt wie immer hinten, starrt auf einen Zettel. Sie darf nicht vergessen, wieder etwas zu essen vorbeizubringen. Einen Kuchen vielleicht. Himbeerschmand, den mochte er gern. Nicht dass er das gesagt hätte. Aber er und die Jungs, alles verputzt haben die, bis auf den letzten Krümel.
Die Meyer-Bonscheidt macht die Anmoderation, in der Hand Mariannes Artikel. Schon jetzt, du lieber Himmel, dermaßen ausgefranst. So ein Laminiergerät, das wäre wirklich eine sinnvolle Anschaffung. Gerade wo nun ständig solche schrecklichen Artikel, eine regelrechte Welle ist das ja. Das wird in ein paar Jahren wieder keiner glauben, was da los war. Hoffentlich zumindest, also wenn es dann wieder besser ist, denkt Marianne. Ob es das wird, kann man natürlich nie genau wissen, nur vertrauen, darauf vertrauen, dass es immer wieder besser geworden ist, in all den Jahren.
Jetzt liest Meyer-Bonscheidt die schlimmsten Zeilen vor, hat Marianne extra angemarkert. Das war kein Spaß, das alles noch mal zu lesen. Da wird selbst Günther unruhig, das lässt keinen kalt. Vorne lacht jemand. Sie beugt sich vor, um zu sehen, wer da so blöd. Aber ist natürlich doch nur irgendein Punk. Dass die zum Bürgergespräch immer aus ihren Löchern gekrochen kommen. Für solche aus der Zeit Gefallenen, nein, extra in die Zeit Hineinstochernden, hat sie ja kein Verständnis. Damals, klar, wer da kein Punk war. Da hatte sie ja durchaus auch, ach, und Punkrock, was haben sie und Günther getanzt.
Jetzt hustet der Punk extra laut, damit man nicht hört, wie Meyer-Bonscheidt die Diskussionsfragen verliest.
Aus den Augenwinkeln sieht sie Aylin, die an der Wand lehnt. Dabei sind doch noch Stühle frei. Das macht so eine unangenehme Atmosphäre, wenn so viele Leute an der Wand herumlungern. Aylin ist nicht die Einzige, die sich nicht hinsetzt. Sind immer junge Leute, die lungern.
Aylin trägt heute kein Kopftuch. Versteht sie auch nicht, nach welchem Muster Aylin das an- und auszieht. Mit zwölf ungefähr, da hat sie das das erste Mal bei ihr gesehen. War bestimmt der Einfluss der Mutter. Sind ja immer die Mütter, die religiösen. Das war bei ihr damals nicht anders, da will sie ja auch gar nichts gegen sagen.
Setz dich zu mir, winkt Marianne. Aylin schüttelt den Kopf, verschränkt die Arme. Dem Mädchen ist auch nicht zu helfen. Marianne möchte seufzen, lässt es sein. Die Diskussion beginnt.
* * *
So viele Menschen, die hier zusammenhocken, so viele Geldtaschen. Unruhe, die sitzt mit den Körpern auf den Stühlen fest, lässt die Beine wippen. Versteht er ja. Wenn einer Unruhe versteht: dann Ario.
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