So antwortet Ringelnatz erwartungsgemäß überhaupt nicht und geht schnell an ihm vorüber. Der andere lacht kalt in seinem kleinen Triumph. Später wird er den anderen erzählen, wie er den alten Ringelnatz mal wieder fertiggemacht hat, »der wußte überhaupt nicht, was er sagen sollte!«, und dann würden sie alle gemeinsam lachen, freudlos in kollektiver Mittelmäßigkeit.
Seufzend schließt er die Tür auf. Seit ihm vor einiger Zeit die Akten eines wichtigen Falles abhanden gekommen sind, hält er sein Büro abgeschlossen. Er hatte damals einen der anderen Ermittler in Verdacht, der ihm eins auswischen und sich selbst ein wenig in Szene setzen wollte, konnte aber nichts beweisen.
Da die Tür immer geschlossen ist, kommen auch die Putzfrauen nicht mehr hinein. Das Telefon ist, bis auf Hörer und Tastatur, staubbedeckt wie alles hier. Vorsichtig wählt er die Nummer der Bibliothek, sorgsam darauf achtend, nicht mit seiner Kleidung den Tisch oder ein anderes Möbelstück zu berühren. Irgendwann wird er aufräumen und saubermachen, nimmt er sich vor.
Eine weibliche Stimme meldet sich.
»Herzog August Bibliothek, Gründgens.«
Ringelnatz stellt sich vor, erklärt in knappen Worten die Situation und sein Anliegen.
»Und deshalb wäre es gut, wenn ich die Ausleihliste oder wie das heißt einsehen könnte. Von dem Buch, meine ich.«
Die Stimme ist freundlich, fast schmeichelnd.
»Natürlich können Sie das. Mit Genehmigung des Direktors, versteht sich.«
»Versteht sich.«
Also muß er doch noch mal mit Bilfinger sprechen. Der Gedanke ist ihm unangenehm.
»Können Sie mir die Liste faxen? Die Nummer ist . . .«
Die Frau unterbricht.
»Das geht leider nicht. Zunächst brauche ich die Genehmigung Doktor Bilfingers.«
»Können Sie ihn nicht schnell fragen? Er kennt mich, wir haben gestern miteinander gesprochen.«
Am anderen Ende der Leitung bleibt es still. Wahrscheinlich wägt seine Gesprächspartnerin jetzt ab, ob es mehr Anstrengung kostet, aufzustehen und zu fragen, oder ihn dazu zu bringen, noch einmal nach Wolfenbüttel zu kommen.
Dann ist sie wieder da.
»Das könnte ich schon tun.«
Na also.
»Aber wir dürfen grundsätzlich keine internen Materialien per Fax verschicken. Bibliotheksanweisung Nummer 234, Datenschutz.«
Eine wandelnde Dienstvorschrift. Willi Ringelnatz kennt den Typ, auch aus der eigenen Firma, und weiß, daß jeder Widerstand zwecklos ist. Niemals wird die Frau etwas tun, was nicht den Vorschriften gemäß ist, auch unter massiver Folter nicht. Resigniert legt er auf.
Er verläßt das Büro, wie er gekommen ist, schleichend, fast auf Zehenspitzen. Zwei Minuten später sitzt er in seinem alten Ford und biegt in die Wolfenbütteler Straße ein, froh darüber, beim Verlassen des Gebäudes niemandem begegnet zu sein.
Eine halbe Stunde später ist er am Ziel. Das wilhelminische Gebäude, erbaut Ende des neunzehnten Jahrhunderts für exakt den Zweck, dem es auch heute noch dient, empfängt ihn wie einen alten Bekannten.
Frau Gründgens entspricht nicht dem Bild, das er sich am Telefon von ihr gemacht hat. Sie ist nicht fünfzig, sondern Mitte Zwanzig, sie ist nicht dick und häßlich, sondern wohlproportioniert, und mit Beinen, die bis zum Himmel reichen, soweit er das von seinem Standort aus beurteilen kann.
Sie bemerkt seinen abschätzenden Blick, den Blick eines in ihren Augen sicherlich alten, unattraktiven Mannes, und preßt mißbilligend die Lippen aufeinander. Schlechter Anfang. Dann aber, als er sagt, wer er ist, ändert sich ihr Gesichtsausdruck, und sie ist sehr kooperativ. Ringelnatz nimmt an, daß sie nach dem Telefongespräch mit Bilfinger gesprochen und dieser sie auf die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit hingewiesen hat.
Er bekommt einen Platz am Rande des Lesesaals zugewiesen. Fünf Minuten später hat er die Liste vor sich, die sich als Computerausdruck herausstellt. Ganz oben steht der Titel des Buches, »Traktätlein von dem Kometen, der im November Anno 1638 gesehen worden ist«; daneben eine Registriernummer, gefolgt von einigen bibliographischen Daten wie Seitenzahl, Erscheinungsjahr und so weiter. Darunter beginnt die eigentliche Liste.
Es sind nur zwei Seiten. Offenbar gehörte das Werk nicht zu den Bestsellern der Bibliothek, denn seit Januar 1950 wurde es nur neunmal verlangt: Zweimal zwischen 1950 und 1960, einmal in den 80ern, die anderen sechs Mal nach 1990. Er notiert sich alle Namen, präzise mit Adressen und Ausweisnummern, und klappt sein Notizbuch zu, zufrieden, einen Anfang gefunden zu haben, vielleicht das Knäuel, an dem der rote Faden hängt.
Wie immer, wenn er bei einer Ermittlung nach einer Zeit des Schwimmens Land unter die Füße bekommt, spürt er Erleichterung. Ringelnatz haßt es, im Dunkelherumzustochern, sich auf Zufälle zu verlassen, ohne Struktur und ohne richtiges Ziel. Seine Arbeit braucht System, sein Denken braucht Ordnung. Er verläßt sich nicht auf Intuition und Gefühl, sondern ausschließlich auf Logik und die Ergebnisse seiner Denkarbeit. Ein konkreter Anfangspunkt gibt seiner Arbeit einen Rahmen, einen Fahrplan, in dem er sich bewegen kann; er fühlt sich sicher in diesem Rahmen, muß kein wirkliches Neuland betreten und muß nicht improvisieren.
Sein nächster Schritt ist, die Personen auf der Liste zu überprüfen und zu versuchen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen.
Nur eines bleibt im Moment noch zu tun, wenn er auch nicht damit rechnet, daß es ihn weiterbringt.
Frau Gründgens blickt auf, als er mit der Liste wieder vor ihrem aufgeräumt wirkenden Schreibtisch steht. Die Bluse der jungen Frau hat ein reichlich bemessenes Dekolleté, und einen Augenblick wandert sein Blick tief hinein; obwohl er in den letzten Jahren selten von ihm Gebrauch gemacht hat, hat sich sein Geschlechtstrieb offenbar noch nicht vollständig von ihm verabschiedet, jedenfalls spürt er ihn im Moment.
Wieder fängt sie seinen Blick auf, wieder hat sie ihn ertappt und verhärtet sich ihr Gesicht mißbilligend. Aber sie bemüht sich, freundlich zu bleiben, und er zieht sich schnell wieder von einem Gebiet zurück, auf dem er nichts verloren hat.
»Ich bin fertig, Frau Gründgens. Die Liste hat mir sehr geholfen. Etwas noch . . .«
Er schaut ihr ins Gesicht, abschätzend, wie sie weitere Fragen von ihm aufnehmen wird. Dann legt er den Computerausdruck vor sie hin.
»Die Liste hier beginnt 1950. Gibt es so etwas auch für die Zeit vorher?«
Sie überlegt nicht lange.
»Nicht in der EDV, die Mühe haben wir uns nicht mehr gemacht. Aber unser Archiv müßte die alten Daten noch haben. Es ist im Keller, nicht zu verfehlen.«
Sie beschreibt ihm genau, welchen Weg er nehmen muß, und entschuldigt sich, ihn nicht hinführen zu können. Ihre Schilderung klingt nicht sonderlich kompliziert, und so macht er sich guten Mutes allein auf den Weg.
Schnell findet er die richtige Tür. Dahinter ist eine Treppe, länger und breiter als alle Kellertreppen, die er bisher betreten hat. Dann beginnt der Keller, der eine Ausdehnung von ungeheuren Ausmaßen zu haben scheint. Der Gang, durch den er gehen muß, ist bestimmt fünf Meter hoch, die Länge ist nicht abzuschätzen. Gemauert aus großen roten Natursteinen, mit gewölbter Decke, macht er den Eindruck ewiger Beständigkeit und Unzerstörbarkeit. An den Wänden stehen vereinzelt Regale, Schränke oder Kisten, deren schlichtes Äußeres keinen Rückschluß auf den Inhalt zuläßt.
Ringelnatz schreitet voran, dringt immer weiter in die Tiefen des Hauses vor, so tief, wie er es nicht für möglich gehalten hätte. Bewegt er sich noch unter den Mauern der Bibliothek? Oder ist er schon unter dem Vorplatz oder den angrenzenden Gebäuden? Die Beleuchtung scheint schwächer zu werden und ab und an zu flackern; vielleicht spielen ihm aber auch seine Augen einen Streich. Er fühlt sich schlecht, ihm ist wieder heiß, er glaubt, nicht atmen zu können in der warmen, verbrauchten Luft des Korridors.
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