Zweitens war das der Moment, auf den ich fast sechzehn Jahre lang gewartet und gehofft hatte. Jemand hatte aufgedeckt, wie USAG mit sexuellem Missbrauch umging. Das bedeutete, jemand hatte den Mund aufgemacht, und mehr noch, dieser Person war geglaubt worden. Der Artikel verbreitete sich schnell, was wiederum bedeutete, dass die Öffentlichkeit ihm Aufmerksamkeit schenkte.
Gleich dort, mit meinem zahnenden Baby auf dem Rücken, brach ich meine unumstößliche Regel über das Schreiben von E-Mails während des Tages. Vor- und zurückwippend, um die kleine Ellianna ruhig zu halten, tippte ich:
Ich schreibe diese E-Mail, um einen Vorfall zu melden … Nicht von meinem Trainer wurde ich belästigt, sondern von Dr. Larry Nassar, dem Mannschaftsarzt von USAG.
Ich war fünfzehn Jahre alt.
Einen Moment hielt ich inne. Ich wusste genau, was es für mich und meine Familie bedeuten würde, wenn das Team vom IndyStar beschließen sollte, die Geschichte aufzugreifen. Ich wusste schon seit Jahren, was der Preis dafür sein würde. Doch es musste sein, und wenn ich es jetzt nicht tat, würde es vielleicht nie passieren.
Die Patientenakten, in denen meine Behandlung aufgezeichnet ist, befinden sich in meinem Besitz, sie liegen in einem Aktenschrank bei meinen Eltern, ein paar Stunden von hier entfernt.
Ich wusste, dass meine Beweise spärlich waren. Aber an der Art und Weise der Untersuchung des IndyStar erkannte ich, dass die Journalisten etwas von den Auswirkungen sexueller Gewalt verstanden, davon, wie Beweise aussahen und welche Muster man häufig erkennen konnte. Sie hatten die Schattenseite von USAG gesehen, weil sie den Missbrauchsopfern geglaubt hatten. Trotzdem, … ich wusste, wie es sich anfühlte, den Mund aufzumachen und abgewiesen zu werden.
Ich habe Nassar nie irgendwem gemeldet, außer meiner Trainerin, ein paar Jahre später … Mir wurde gesagt, dass ich es bloß niemandem sagen solle, … es würde auf mich zurückfallen. So entschied ich mich dagegen, zur Polizei zu gehen, … mein Wort stand gegen seines … Ich war mir sicher, dass man mir nicht glauben würde.
Unruhig sah ich mich in meiner Küche um.
Wir waren gerade mit dem Frühstück fertig und ich schrieb eine E-Mail, die – wenn sie ihren Zweck erfüllte – unser Leben völlig auf den Kopf stellen würde. Ich schüttelte mich innerlich, unterdrückte entschlossen die in mir aufsteigende Übelkeit und tippte zwei letzte Sätze:
Bisher hatte ich wenig Hoffnung, dass irgendetwas aufgeklärt werden würde, wenn ich an die Öffentlichkeit ginge, deshalb habe ich geschwiegen. Wenn sich das nun ändern könnte, werde ich mich so öffentlich wie nötig äußern.
Dann drückte ich auf Senden.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ] Inhalt Vorwort [ Zum Inhaltsverzeichnis ] Anmerkung der Autorin [ Zum Inhaltsverzeichnis ] Prolog [ Zum Inhaltsverzeichnis ] EINS [ Zum Inhaltsverzeichnis ] ZWEI [ Zum Inhaltsverzeichnis ] DREI [ Zum Inhaltsverzeichnis ] VIER [ Zum Inhaltsverzeichnis ] FÜNF [ Zum Inhaltsverzeichnis ] SECHS [ Zum Inhaltsverzeichnis ] SIEBEN ACHT NEUN ZEHN ELF ZWÖLF DREIZEHN VIERZEHN FÜNFZEHN SECHZEHN SIEBZEHN ACHTZEHN NEUNZEHN ZWANZIG EINUNDZWANZIG ZWEIUNDZWANZIG DREIUNDZWANZIG VIERUNDZWANZIG FÜNFUNDZWANZIG SECHSUNDZWANZIG SIEBENUNDZWANZIG ACHTUNDZWANZIG NEUNUNDZWANZIG Epilog Dank Über die Autorin Beratungs- und Anlaufstellen für Betroffene sexualisierter Gewalt Anmerkungen
»Warum hast du nicht eher etwas gesagt?« Diese Frage wurde mir häufiger gestellt, als ich zählen kann. Manchmal ist die Motivation dahinter der aufrichtige Wunsch, es zu verstehen, und manchmal wird die Frage wie eine Waffe eingesetzt, um Zweifel darüber zu äußern, ob mein Missbrauch überhaupt stattgefunden hat. Die Wahrheit ist, dass ich sehr wohl etwas gesagt habe, viele von uns haben das. Aber wie alle Opfer von sexueller Gewalt bestätigen können, ist es eine Sache, etwas zu sagen – gehört und ernst genommen zu werden eine andere.
Sexuelle Straftäter sind wie Raubtiere und machen Jagd auf die Wehrlosen. Sie rechnen damit, dass die Opfer sich nicht selbst schützen können, aber vor allem, dass alle anderen zu viel Angst haben, um ihnen entgegenzutreten. Ich hasse Ungerechtigkeit. Aber Schweigen und Apathie gegenüber Ungerechtigkeit verabscheue ich noch mehr. Viel zu oft ist die Überzeugung der Täter, dass niemand sie herausfordern wird, begründet. Und genau das hat verheerende Folgen für die Opfer, auf die sie es abgesehen haben. Aber so darf es nicht länger bleiben.
Schon immer hatte ich einen starken Gerechtigkeitssinn und den Wunsch, andere zu beschützen. An einem Nachmittag, ich war ungefähr sieben Jahre alt, brachte meine Mutter mich und meine beiden jüngeren Geschwister Joshua und Bethany zu McDonald’s, wo wir mit anderen Kindern zum Spielen verabredet waren. Es gab einen Spielbereich mit einem Bällebad, verzweigten Tunneln und einer kurvigen Rutsche, die einem einen solch gehörigen elektrischen Schlag versetzte, dass auch die geschmeidigste Frisur in eine perfekte Nachbildung von Albert Einsteins Schopf verwandelt wurde, noch ehe man unten ankam. Die Tunnel und das Bällebad waren meine Lieblingsplätze im Spielbereich, man konnte sich die wildesten Abenteuer in diesem Plastiklabyrinth vorstellen. Gerade war ich damit beschäftigt, die Plastiktunnel nach feindlichen Eindringlingen zu durchsuchen, als ich es sah. Direkt unter mir attackierte ein Junge, etwa in meinem Alter, meinen Bruder und meine Schwester mit den Füßen! Eine heftige Welle von Emotionen erfasste mich. Als die Älteste und Stärkste von uns Dreien wusste ich, was meine Aufgabe war, nämlich die zu beschützen, die sich nicht selbst schützen können. Ich hatte es von dem Moment an gewusst, als meine Mutter meinen neugeborenen Bruder aus dem Krankenhaus mit nach Hause gebracht hatte, damals war ich etwa zweieinhalb Jahre alt. Es war einer dieser Augenblicke, die mir bis heute deutlich in Erinnerung geblieben sind.
Mein kleiner Bruder war »nagelneu« und die erstaunlichste winzige Person, die ich mir hatte vorstellen können. Ich wollte mich so sehr um Joshua kümmern, dass meine Mutter mich beim Windelwechseln zuschauen ließ und mir jeden Schritt dieser Prozedur erklärte. Und das war es wirklich – im Jahr 1987 waren die Stoffwindeln noch nicht so hübsch mit Druckknöpfen, Taschen und Einsätzen ausgestattet wie heute. Es waren die altmodischen Dinger, die man falten und mit riesigen Sicherheitsnadeln befestigen musste. Ich erinnere mich an die Einweisung meiner Mutter, als wäre es gestern gewesen. Sie zeigte mir, wie man den Stoff faltete, um die richtige Form zu erhalten, auf welcher Höhe die Windel auf dem kleinen Bauch des Babys liegen musste und wie man überprüfte, ob sie an den Beinchen richtig saß. Dann tat meine Mutter etwas, das ich nicht mehr vergessen werde. Sie schob ihren Zeige- und Mittelfinger unter die Kanten, an denen sich die Windelenden trafen, und sagte: »Denk immer daran, deine Finger zwischen die Windel und das Baby zu halten, genau da, wo du die Nadel durchstechen willst. Wenn die Nadel einmal abrutscht, ist es die Mama, die verletzt wird, und nicht das Baby.«
»Weißt du, Rachael«, fuhr sie fort, »das Wichtigste ist, die Kleinen zu schützen.« Und das lebte sie uns mit ganzem Herzen vor. Ich wurde mit meinen eigenen Stoffwindeln und Nadeln ausgestattet und durfte an meiner Cabbage Patch-Puppe üben. Jedes Mal, wenn ich der Puppe die Windel wechselte, machte ich alles genau so, wie es mir meine Mutter gezeigt hatte. Gewissenhaft faltete ich die Windel und überprüfte, wie mein Schützling darauf lag. Dann schob ich meine Finger unter die Kanten, holte tief Luft und stach die Nadel durch. Und wissen Sie was? Kein einziges Mal habe ich meine Puppe gepikst. Natürlich hatte ich jedes Mal, wenn ich übte, einen Anflug von Sorge, dass ich mir mit der Nadel selbst in die Finger stechen würde. Aber ich sagte mir einfach immer wieder: Das Wichtigste ist, das Baby zu schützen. Das ist meine Aufgabe.
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