In den beschriebenen Szenarien wird eine überaus große Not in unserer Welt deutlich, im säkularen Kontext ebenso wie in christlichen Settings. Unterschiedlichste Formen des Missbrauchs sind nur da dauerhaft möglich, wo das Umfeld mitmacht. Wo es zu unbequem ist, genau hinzuschauen und sich mit wichtigen Themen zu beschäftigen. Wo wir Unrecht nicht wahrhaben wollen und uns weigern, Schuld und Mitschuld beim Namen zu nennen. Wo sich unsere Orientierungslosigkeit weigert, fachliche Hilfe zu suchen, und wo Beratungsresistenz boomt. Wo wir über sexuellen und religiösen Missbrauch lieber nicht aufklären, weil Organisationen und christliche Gemeinschaften dann ja angegriffen werden könnten. Wo wir vor den nötigen Konsequenzen Angst haben und deshalb schweigen. Der Schein muss gewahrt bleiben. Haben wir im Blick, dass wir dadurch Betroffene im Stich und Täter weiter gewähren lassen und unsere eigene Glaubwürdigkeit riskieren?
Durch verschiedene offengelegte Skandale ist zumindest das Thema der sexualisierten Gewalt auch in Europa massiv in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückt. Viele säkulare und kirchliche Organisationen arbeiten mit Hochdruck an Präventiv- und Schutzkonzepten gegen sexuellen Missbrauch. Jedes Engagement in diesem Kontext ist wertvoll. Gleichzeitig braucht es an vielen Orten noch eine ehrliche Aufarbeitung dessen, was bereits geschehen ist.
Das Thema des religiösen Missbrauchs ist währenddessen noch lange nicht verstanden. Die Vernachlässigung einer Fürsorgepflicht durch die Gemeindeleitung – wie im Buch beschrieben – ist eines seiner Gesichter. Genauso wie das Phänomen der Beschämung und Diskreditierung derer, die Probleme ansprechen.
Rachael Denhollander wurde zu einer mutigen Stimme für Tausende Betroffene. Ihre ehrliche Auseinandersetzung mit vielen wichtigen Fragen berührt. Sie handelte nach den Werten ihres Glaubens, die in folgenden Bibelworten zum Ausdruck kommen:
»Du aber tritt für die Leute ein, die sich selbst nicht verteidigen können! Schütze das Recht der Hilflosen! Sprich für sie und regiere gerecht! Hilf den Armen und Unterdrückten!« (Sprüche 31,8-9 Hfa).
»Lernt wieder, Gutes zu tun! Sorgt für Recht und Gerechtigkeit, tretet den Gewalttätern entgegen und verhelft den Waisen und Witwen zu ihrem Recht!« (Jesaja 1,17 Hfa).
Wie schön wäre es, wenn wir alle aus dieser Geschichte lernen könnten – in unserer Gesellschaft und ganz besonders in christlichen Settings aller Art! Wenn wir alle im Blick auf Dynamiken sexualisierter Gewalt und toxischer Spiritualität ehrlich werden, wenn Machtmissbrauch jeder Art verstanden und beendet wird, könnte es sein, dass nicht nur das Leid unzähliger Betroffener gewürdigt wird (was ihnen so sehr zusteht), sondern dass es in Zukunft mehr sichere Orte gäbe, an denen Menschen leben können. Und dass Kirchen und Gemeinden ihre Glaubwürdigkeit wiedererlangen, wo sie diese durch Missbrauch oder einen falschen Umgang damit verloren haben.
Unser Handeln hat Gewicht für diese Zeit, in der wir leben. Und es hat Ewigkeitsrelevanz, für uns und andere.
Ich schließe mit den Worten, die Rachel Denhollander selbst in ihrem Finale wählt:
»Es gibt noch so viel zu tun. So viel Böses zu bekämpfen, so viel Heilung zu erreichen, so viele Verletzte zu lieben. Entscheiden wir uns immer wieder dafür, ungeachtet der Kosten das Richtige zu tun […] Die Dunkelheit ist da und wir können sie nicht ignorieren. Aber was wir tun können ist, uns von ihr zum Licht weisen zu lassen.«
Inge Tempelmann
[ Zum Inhaltsverzeichnis ] Inhalt Vorwort [ Zum Inhaltsverzeichnis ] Anmerkung der Autorin [ Zum Inhaltsverzeichnis ] Prolog [ Zum Inhaltsverzeichnis ] EINS [ Zum Inhaltsverzeichnis ] ZWEI [ Zum Inhaltsverzeichnis ] DREI [ Zum Inhaltsverzeichnis ] VIER [ Zum Inhaltsverzeichnis ] FÜNF [ Zum Inhaltsverzeichnis ] SECHS [ Zum Inhaltsverzeichnis ] SIEBEN ACHT NEUN ZEHN ELF ZWÖLF DREIZEHN VIERZEHN FÜNFZEHN SECHZEHN SIEBZEHN ACHTZEHN NEUNZEHN ZWANZIG EINUNDZWANZIG ZWEIUNDZWANZIG DREIUNDZWANZIG VIERUNDZWANZIG FÜNFUNDZWANZIG SECHSUNDZWANZIG SIEBENUNDZWANZIG ACHTUNDZWANZIG NEUNUNDZWANZIG Epilog Dank Über die Autorin Beratungs- und Anlaufstellen für Betroffene sexualisierter Gewalt Anmerkungen
Dieser Bericht enthält meine Darstellung der Ereignisse, die mich dazu bewegten, gegen meinen Peiniger auszusagen. Ich möchte den Schaden aufdecken, den Missbrauchstäter anrichten und der entsteht, wenn Missbrauch verharmlost oder ignoriert wird. Einige Namen und persönliche Daten habe ich geändert, um die Privatsphäre einzelner Personen zu schützen. Bei der Beschreibung der Ereignisse stütze ich mich nicht nur auf meine Erinnerung, sondern auch auf meine persönliche Korrespondenz, Medienberichte, Gerichtsprotokolle sowie medizinische und juristische Unterlagen. Wie es bei allen Autobiografien der Fall ist, ist dies meine ganz persönliche Version der Geschichte.
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4. August 2016, 10:32 Uhr
Sehr geehrte Damen und Herren …
An diesem Morgen hatte ich nicht vorgehabt, eine E-Mail zu schreiben. Mit drei Kindern unter fünf Jahren musste und wollte ich meine Zeit tagsüber damit verbringen, die schlichten, aber reichen Freuden mit den Kleinen zu genießen – und nur wenn es möglich war ein paar Stunden meiner eigenen Arbeit dazwischenzuschieben. Mein Mann Jacob war Vollzeitstudent, der nebenbei jobbte und selten vor dem Abendessen zu Hause war. An diesem Morgen hatte ich mich auf meinem Laptop angemeldet, um die Einkaufsliste zu suchen, die ich am Vorabend getippt hatte. Zufällig war Facebook noch geöffnet, sodass mir die Schlagzeile sofort ins Auge fiel – ein häufig angesehener Nachrichtenartikel, der nur wenige Stunden zuvor gepostet worden war: »Augen vor sexuellem Missbrauch verschlossen: Wie USA Gymnastics es unterließ, Fälle zur Anzeige zu bringen.«
Was für ein Schock. Mein Mann und ich hatten die Leiter unserer Kirchengemeinde gerade erst auf ein ähnliches Problem angesprochen, das eine Gemeinde betraf, die sie unterstützten; die Wunde fühlte sich noch sehr frisch an. Ich sah mich um, um sicherzugehen, dass mein fünfjähriger Sohn, der bereits fließend lesen konnte, nicht in der Nähe war. Dann klickte ich auf den Link.
Was ich las, erfüllte mich mit einer Trauer, die ich nicht ausdrücken kann. USA Gymnastics hatte systematisch Berichte über sexuelles Fehlverhalten in einem Aktenschrank vergraben – Beschwerden von über vierundfünfzig Teamtrainern, in einem Zeitraum von zehn Jahren –, und einige dieser Trainer hatten danach noch jahrelang kleine Mädchen missbraucht. 1Ich hätte am liebsten geweint. Nur zu gut wusste ich, was diese armen Kinder durchgemacht hatten.
Am Ende des Artikels stand folgender Hinweis: »Der IndyStar wird weiterhin in dieser Sache ermitteln.« Die Redaktion hatte eine E-Mail-Adresse angegeben, an welche die Leser Hinweise senden konnten. Mein Magen drehte sich um. In diesem Moment war ich mir in zwei Punkten ganz sicher.
Erstens hatte ich recht. Der Dachverband United States of America Gymnastics (USAG) hatte Fälle sexuellen Missbrauchs verheimlicht, um das Gesicht zu wahren. Wenn sie ihre Trainer beschützt haben, vermutete ich, hätten sie ihn erst recht beschützt. Sie hätten nie auf mich gehört.
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