Der Keeper wußte Bescheid. Er kannte diese Art von Kunden, die ihre ersten Schritte in die Freiheit unternahmen. Die Leute waren meist mürrisch und unsicher. Wortlos stellte er den Kaffee vor den entlassenen Sträfling hin. Dann beschäftigte er sich wieder mit seinen Gläsern.
Marty Jefferson angelte sich eine Zeitung und las. Ihm kam alles noch so neu und ungewohnt vor. Jede einzelne Bewegung war ihm fremd.
Er wollte hier auf Clivia warten. Hoffentlich gelang es ihm, sie zu sprechen, ohne daß die anderen etwas davon erfuhren. Immer wieder sah er auf seine Armbanduhr.
Es waren noch zwanzig Minuten bis zwölf Uhr. Vom Fenster der Kneipe aus konnte Marty den weiten Platz vor dem Zuchthauskoloß überschauen.
Dann sah er Clivia. Sie ging langsam auf das große Tor zu. Jefferson schlug seinen Mantelkragen hoch und zog den Hut in die Stirn. Er. warf dem Keeper eine Münze hin und verließ den Laden.
Clivia erkannte ihn nicht gleich, als er auf sie zukam. Doch dann strahlte sie ihn an.
„Marty, wie froh ich bin!“
Jefferson drückte ihre Hand. Dann zog er sie rasch mit sich fort. „Wir müssen schnell weg von hier. Komm!“
Sie hatte sich das Wiedersehen offenbar anders vorgestellt, aber sie sagte nichts. Sie wußte, daß er ihr alles erklären würde, sobald er sich etwas beruhigt hatte.
Schweigend gingen sie nebeneinanderher. Schließlich raffte sich Marty Jetrferson zu einer vagen Erklärung auf: „Die anderen werden um 12 Uhr entlassen. Ich hatte einen angemessenen zeitlichen Vorsprung, aber den habe ich verschenkt, weil ich auf dich warten wollte. — Darling, sie sind hinter mir her. Wir müssen auf schnellstem Wege nach New York, damit ich untertauchen kann.“
Clivia sah ihn verstört an. „Ich verstehe nicht …“
„Ich erkläre dir später alles“, sagte Jefferson.
Das Mädchen war mit dem Zug gekommen. Sie wußte auch, wann der nächste zurück nach New York ging. Fahrkarten für sich und Marty hatte sie bereits besorgt.
„Du gehst jetzt vor und steigst in den Zug ein!“ entschied Marty. „Ich komme später nach. Wir treffen uns dann im Zug.“
Clivia spürte, daß Marty vor irgend etwas Angst hatte. Er war sehr blaß, und seine Augen flackerten.
Sie trennten sich in der Nähe der Central Station von Scranton. Marty Jefferson verschwand in einer Nebenstraße.
Zehn Minuten später saß Clivia im Zug. Sie hatte ein leeres Abteil, gefunden. Sie war froh darüber, denn sie wollte sich ungestört mit Marty unterhalten. Es waren nur noch wenige Minuten bis zur Abfahrt. Besorgt blickte sie aus dem Fenster auf den Bahnsteig. Marty war nirgends zu sehen. Wenn er nicht bald käme, würde er den Zug nicht mehr erwischen.
Der Beamte auf dem Bahnsteig gab die Abfahrt frei. Da sah Clivia einen Mann aus der Bahnhofshalle kommen. Es war Marty.
Der Zug hatte sich schon in Bewegung gesetzt, Sie winkte ihm, konnte aber nicht erkennen, ob er sie gesehen hatte. Im letzten Augenblick sprang er auf den letzten Wagen auf.
Kurze Zeit später saß er neben ihr im .Abteil.
„Ich glaube, ich habe sie abgeschüttelt“, sagte er.
„Wen?“ fragte sie verwundert.
„Die anderen drei. Wenn sie mich verfolgt haben, dann bin ich ihnen entkommen. Ich bin als letzter in den Zug eingestiegen. Die Gesichter der Burschen möchte ich sehen, wenn sie feststellen, daß ich ihnen entwischt bin.“
Das Mädchen sah ihn von der Seite an. Er hatte sich verändert in den fünf Jahren. Er war nicht mehr der unbekümmerte Junge, der sich um nichts Sorgen zu machen schien.
Sie sprachen wenig in der nächsten Viertelstunde. Marty saß zusammengekauert in seiner Ecke. Er kramte nervös in seinen Taschen.
„Suchst du etwas?“ fragte Clivia.
„Meine Zigaretten. Ich habe mir vorhin in der Pinte welche gekauft. Ich muß sie liegengelassen haben.
Sie stand auf. „Soll ich dir eine Pakkung aus dem Speisewagen holen?“
„Das wäre lieb von dir.“ Er lächelte zum erstenmal.
Sie nickte ihm zu und verließ das Abteil. Marty Jefferson blickte an ich herunter. Er sah nicht gerade vornehm aus. Neben Clivia, die ein schickes Chanel-Kostüm trug, kam er sich vor wie ein Landstreicher neben der Herzogin von Windsor.
Die Elektrolek summte eine Steigung hoch. Schlagartig wurde es dunkel im Abteil. Der Zug war in einen Tunnel eingefahren. Die Leute von der Northern Railroad hatten offenbar vergessen, das Licht einzuschalten.
Es war still. Nur das Rattern der Räder war zu hören. Draußen und drinnen war es stockdunkel.
Plötzlich spürte Marty Jefferson einen leichten Luftzug. Die Abteiltür war geöffnet worden.
„Bist du es, Darling?“ fragte Marty Keine Antwort. Marty ging auf die Tür zu, um sie wieder .zu schließen. Er nahm an, daß sie von selbst aufgegangen war.
Er hatte gerade seine Hand auf den Griff der Schiebetür gelegt, als jemand seinen Arm packte und ihn aus dem Abteil zerrte.
Eisiges Entsetzen packte ihn. Er taumelte wie betrunken auf den Gang hinaus.
Sie hatten ihn also doch erwischt. Er konnte sich einfach nicht erklären, wie sie das geschafft hatten.
Verzweifelt riß Marty sich los und stolperte den Gang entlang. Hinter sich hörte er die huschenden Schritte des anderen.
Dann war Marty am Ende des Wagens angekommen. Es war immer noch stockdunkel, sonst hätte er die Tasche vielleicht gesehen, die quer auf dem Gang stand. Als er das Hindernis bemerkte, war es schon zu spät. Er stolperte und fiel hin.
Bevor er sich wieder erheben konnte, war der andere über ihm. Wie eine eiserne Klammer legten sich zwei Hände um seinen Hals.
Marty spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoß. Sein Atem ging röchelnd. Er versuchte, sich zu befreien, aber es gelang ihm nicht. Ihm war, als sei die Dunkelheit durchsichtig geworden. Rote Nebel wallten vor seinen Augen.
Dann spürte er nichts mehr.
Als der Verfolger merkte, daß sein Opfer keine Lebenszeichen mehr von sich gab, ließ er von ihm ab. Er packte ihn am Kragen und schleifte ihn an die Tür.
Er stieß die Abteiltür auf und beförderte den bewußtlosen Jefferson mit einem Tritt nach draußen. Martys Körper schlug auf dem Trittbrett auf, dann verschwand er im Dunkel des Tunnels.
Auf dem anderen Gleis brauste ein Gegenzug heran.
Clivia Vanderbild sah sich suchend um. Von einem vorbeikommenden Schaffner erfuhr sie, daß der Speisewagen am Ende des Zuges sei.
Sie hatte zwei Wagen passiert, als es plötzlich dunkel wurde. Der Zug fuhr in einen Tunnel.
Sie blieb stehen, wo sie gerade war. Sie traute sich nicht, im Dunkeln weiterzugehen. Es vergingen nur einige Minuten, dann war der Zug wieder aus dem Berg heraus.
Clivia beeilte sich, weiterzukommen. Sie hatte den Speisewagen fast erreicht, als der Zug seine Fahrt verminderte, um dann in einen Bahnhof einzufahren. Paterson hieß die Station. Es stiegen nur wenig Leute aus.
Als sich der Zug wieder in Bewegung setzte, befand Clivia sich auf dem Rückweg zu ihrem Abteil. Sie hatte eine Packung Lucky Strike in der Hand.
Dann hatte sie das Abteil erreicht.
„Hier sind deine …“ Erst jetzt bemerkte, sie, daß das Abteil leer war. Sie blickte suchend auf den Gang hinaus. Nichts. Sicher war Marty in den Waschraum gegangen und würde gleich wiederkommen.
Als er nach einer Viertelstunde immer noch nicht da war, wurde Clivia unruhig. Sie ging ins Nachbarabteil und fragte, ob jemand Marty gesehen habe.
Aber niemand konnte ihr helfen. Die Leute, “die sie ansprach, zuckten bedauernd die Achseln.
Der Zug hatte bereits die Außenbezirke von New York erreicht. Die Sachen, die Marty bei sich gehabt hatte, lagen noch im Abteil.
Clivia rannte durch den Zug und fragte jeden, der ihr über den Weg lief, nach Marty Jefferson. Niemand hatte ihn gesehen. Es sah ganz so aus, als sei Marty nicht mehr im Zug. Sollte er in Paterson ausgestiegen sein? Aber dann hätte er doch sicher seine Sachen mitgenommen. Warum hätte er auch vorzeitig aussteigen sollen?
Читать дальше