„Weil niemand außer uns von der Sache wußte!“ bellte der erste Sprecher. „Eins laßt euch gesagt sein, Jesse Lane läßt sich nicht ausbooten, weder von euch noch von irgend jemand anderem.“
„So kommen wir nicht weiter“, sagte einer, der bisher geschwiegen hatte. „Wenn wir uns noch lange herumstreiten, landen wir alle im Knast, und keiner hat etwas von dem Goldregen!“
„Halt den Rand, Marty!“ brüllte Jesse Lane. „Du bist schuld daran, daß wir die Kohlen nicht gleich geteilt haben. Ganz wild warst du drauf, erst deinen Corpus in Sicherheit zu bringen!“
Dem Lauscher an der Tür genügte das, was er gehört hatte. Er zog seine Automatic aus der Halfter und stieß mit der Linken die Tür auf.
„Macht euch keine Gedanken über das Geld, Boys! Ihr werdet im Zuchthaus genug Zeit haben, darüber nachzudenken“, sagte Joe spöttisch. Befriedigt stellste er fest, daß das Kleeblatt vollzählig versammelt war.
Die vier Ganoven waren zu überrascht, um an Widerstand zu denken. Außerdem hatte keiner eine Waffe in Reichweite.
Joe befahl ihnen, sich an der Wand aufzustellen und langsam die Jacken auszuziehen. Auf diese Weise konnte er feststellen, wer von ihnen eine Waffe unter der Achsel trug.
Nur Jesse Lane war mit einem Revolver ausgerüstet. Joe nahm das Schießeisen an sich.
Dann entdeckte er das Telefon auf dem Tisch. Er wählte die Nummer der New Yorker Polizei, ließ dabei aber die vier Burschen an der Wand. nicht aus den Augen. Die Leute vom Center verspracen, sofort anzurollen.
Die Gangster standen immer noch mit erhobenen Händen an der Wand, als die Beamten eintrafen. Dann klickten Handschellen um ihre Handgelenke.
Das war im September 1958.
Joe Barry hatte der Polizei einen großen Dienst erwiesen. Daß er sich viel später noch einmal mit dem Fall beschäftigen sollte, konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht wissen.
Reichlich fünf Jahre waren vergangen. Die vier Bankräuber waren im Zuchthaus von Scranton, Pennsylvania, gelandet. Der Richter hatte sie zu fünf Jahren und fünf Monaten verurteilt. Der Vertreter der Anklage vertrat die Ansicht, einer der vier müsse der Mörder von Dean Kelly, ihrem Anführer, sein, aber er konnte keine Beweise für diese Behauptung erbringen. Die vier Ganoven wurden daher nur wegen Bandenverbrechen verknackt.
Von dem erbeuteten Geld fehlte jede Spur. Der District Attorney ließ nichts unversucht, um herauszufinden, was aus der Beute geworden war. Wenn die vier Ganoven wirklich etwas über Kellys Tod und das Verschwinden der halben Million wußten, dann verbargen sie ihr Wissen meisterhaft. Sie verwickelten sich trotz ständiger Verhöre niemals in Widersprüche und blieben bei ihrer ersten Aussage.
Später, als sie in Scranton saßen, versuchte der Zuchthausdirektor, sie weichzukochen. Aber auch er erfuhr nichts.
Am 30. Januar sollten die Gangster nun entlassen werden. Sie hatten ihre Strafe gemeinsam abgesessen, aber ihre Einstellung zueinander hatte sich im Laufe der Jahre geändert.
Bevor die vier im Kittchen gelandet waren, hatten sie ein Team gebildet. Einer hatte sich auf den anderen verlassen. Sie waren bestens aufeinander eingespielt; ihr Coup in der Bank hatte das gezeigt. Es war alles wie geschmiert gegangen.
Im Zuchthaus hatten sich ihre Beziehungen zueinander verschlechtert. Die vergangenen fünf Jahre hatten sie zu Feinden gemacht. Jeder mißtraute jedem.
Am meisten konzentrierte sich der Haß der anderen drei jedoch auf Marty Jefferson. Ihm gaben sie die Schuld dafür, daß man sie eingelocht hatte. Das gespannte Verhältnis zwischen den ehemaligen Gangstern war schon mehrfach der Anlaß zu einer Schlägerei gewesen. Der Zuchthausdirektor hatte daraufhin die Gefangenen isoliert. Sie sahen sich nur noch selten.
Einen Tag vor der Entlassung ließ der Direktor Marty Jefferson zu sich kommen. Der: Häftling erwartete, daß man ihn, wie so oft in den vergangenen Wochen und Monaten, über den Verbleib des Geldes ausfragen werde. Er sollte sich irren.
„Sie werden sich sicher wundern, daß ich Sie schon wieder rufen lasse“, sagte der Direktor jovial.
Jefferson nickte. Er nickte immer, wenn ihm diese Frage gestellt wurde, obwohl er sich keineswegs mehr wunderte.
„Ich will heute nicht mit Ihnen über das verschwundene Geld reden, sondern über etwas, das Sie allein angeht.“
Jefferson spitzte die Ohren. Welchen Trick mochte der Alte — wie der Direktor allgemein genannt wurde — sich diesmal ausgedacht haben, um ihn zu überlisten. Marty Jefferson beschloß, auf der Hut zu sein. Er warf dem Direktor einen lauernden Blick zu.
Im Plauderton fuhr dieser fort: „In unserem gastlichen Hause gehen merkwürdige Gerüchte um. Haben Sie schon davon gehört?“
Jefferson schüttelte den Kopf. Er kümmerte sich nicht um den Knastklatsch.
„Dann werde ich Ihnen sagen, worum es sich handelt“, sagte der Direktor bedächtig. „Ihre ehemaligen Kumpane Cole Balmer, Jesse Lane und Harvey Cotton scheinen der Ansicht zu: sein, daß Sie es waren, der damals Dean Kelly erschossen und das Geld abgestaubt hat.“
„Ich habe Ihnen doch schon oft gesagt…“, wollte Marty Jefferson einwenden, doch der Direktor winkte ab.
„Es geht nicht darum, was ich glaube oder was die Polizei glaubt. Es geht um etwas ganz anderes. Ich bin erstaunt, daß Sie das noch nicht begriffen haben. Ihr Freund Jesse Lane hat überall verbreitet, Sie hätten das Geld. Dieses Gerücht ist lebensgefährlich für Sie. Wehn erst einmal draußen in Gahgsterkreisen durchsickert, Sie befänden sich im Belitz von einigen hunderttausend Dollar, dann werden diese Brüder nicht lange fragen, ob die Geschichte stimmt oder nicht. Man wird Ihnen auf den Fersen bleiben, wie Aasgeier werden sie hinter Ihnen her sein und Sie bei passender Gelegenheit aus dem Wege räumen, um an Ihre vermeintliche Beute heranzukommen.“
Daher weht also der Wind. Nun wußte Marty Jefferson auch, was sein Hintermann vorhin beim Rundgang gemeint hatte, als er von interessanten Gerüchten und viel Kies faselte.
„Ich habe das Geld wirklich nicht!“ knurrte Marty wütend. „Jesse ist ein gemeiner Lügner, wenn er das behauptet. Aber was soll ich tun? Vielleicht eine Sondermeldung ans Schwarze Brett heften: ,Ich, Marty Jefferson, erkläre feierlich, keine halbe Million zu besitzen …‘“ Er winkte ab. „Keiner würde mir glauben.“
„Ganz recht“, pflichtete der Direktor ihm bei. „Und deshalb möchte ich Ihnen helfen. Sie sollen Gelegenheit bekommen, sich klammheimlich in Sicherheit zu bringen. Sie und Ihre drei Kumpels sollten morgen vormittag entlassen werden. Ich gebe Ihnen einen Vorsprung von vier Stunden vor den anderen. Bereiten Sie sich darauf vor, daß Sie schon morgen früh um acht Uhr entlassen werden. Ich rate Ihnen, keinem etwas davon zu sagen. Lassen Sie alle bei dem Glauben, daß Sie erst mittags 'rauskommen.“
Marty Jefferson nickte. Auf einmal freute er sich nicht auf die Freiheit, auf Clivia, seine Braut, die auf ihn wartete. Er würde draußen keine Ruhe finden. Sie würden ihn wieder hetzen. Doch diesmal war es nicht die Polizei, die er fürchtete, sondern es waren Gangster, die keine Skrupel kannten.
Der Direktor schärfte Marty Jefferson noch einmal ein, nicht über ihr Geheimabkommen zu sprechen, dann drückte er auf einen Knopf unter der Schreibtischplatte. Ein Aufseher erschien und brachte den Häftling in seine Zelle zurück.
Für Marty Jefferson sollte eine unruhige Zeit beginnen Wenn er gewußt hätte, was ihn draußen erwartete, dann hätte er vielleicht den Direktor um Schutzhaft gebeten. Aber es fehlte ihm an Phantasie und Erfahrung, um sich das tödliche Spießrutenlaufen ausmalen zu können, das man mit ihm veranstalten würde.
Die Ampel für die Fußgänger wechselte von „Go“ auf „Stop“. Der Fußgängerstrom, der sich über die Straße wälzte, riß ab.
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