Einige schienen jedoch farbenblind zu sein. Sie betraten trotz des roten Stop-Zeichens den Zebrastreifen. Der Polizist, der an der Straßenecke den Verkehr regelte, bedachte sie mit einem mißbilligenden Blick. Die Verkehrssünder beeilten sich, Anschluß an den Pulk vor ihnen zu bekommen.
Der Polizist hob den Arm, um den Verkehr für die Wagen freizugeben. In diesem Augenblick trippelte ein Mädchen über.den Zebrastreifen.
Sie würdigte den Cop keines Blickes und stöckelte über die Straße. Offenbar hatte sie es sehr eilig.
Der Polizist vergaß, seinen Arm wieder herunterzunehmen. Sein Gesicht überzog sich mit Zornesröte. Dann verließ er seinen Posten und trabte hinter dem Mädchen her.
„Sie!“ Er setzte seihe Trillerpfeife an die Lippen.
„Meinen Sie mich, General?“ Das Mädchen sah sich um und warf dem Cop einen Blick zu, der Stahl zum Schmelzen gebracht hätte.
Der Cop war nicht aus Stahl. Niedlicher Käfer, stellte, er fest, dann wurde er wieder dienstlich.
„Sie sind eben bei Rot über die Kreuzung gelaufen!“
„So? Das ist mir gar nicht aufgefallien.“ Sie lächelte. Der Verkehrsregler wurde nervös. Er vermied, der Kleinen ins Gesicht zu blicken, und starrte irritiert auf ihre Beine. Was er da sah, brachte ihn noch mehr aus der Fassung. Wie magnetisch angezogen, wanderte sein Blick über ihre schlanken Fesseln zu den Knien, die der Faltenrock freigab.
Das Mädchen beobachtete ihn amüsiert. Als ihr die Zeit zu lang wurde, räusperte sie sich.
„Was habe ich falsch gemacht?“ Der Polizist blickte auf. Sein Gesicht war immer noch rot.
„Ist schon in Ordnung, Miß“, murmelte er, machte auf dem Absatz kehrt und stiefelte eilig an seinen Posten zurück.
Das Mädchen warf ihm einen spöttischen Blick nach. Dann setzte sie ihren Weg fort. Sie hatte es nicht mehr weit. Fünf Minuten später trat sie durch das Portal eines großen Bürohauses.
Es störte sie nicht, daß die Männer, die hinter ihr gingen, die Bewegungen ihrer Hüften mit den Augen verfolgten. Sie hatte sich daran gewöhnt.
Der Pförtner, der vorn am Portal stand, nickte ihr zu. „Guten Morgen, Miß Vanderbild!“ Seine Augen schienen an ihr festgenagelt. Er rührte sich erst, wieder, als sie in einem der sechs Aufzüge verschwunden war. Er beneidete die Männer, die neben ihr im .Lift standen.
Clivia Vanderbild fuhr mit dem Schnell-Lift in den 45. Stock. Hier arbeitete sie als Privatsekretärin von Derrik Fuller, dem Inhaber der Fuller Company.
„Na, Clivia, da sind Sie ja. Ich habe schon auf Sie gewartet.“ Fuller sagte das nicht etwa in vorwurfsvollem Ton. Er gehörte nicht zu den Chefs, die eine Verspätung ihrer Angestellten für eine Todsünde halten.
„Ein Cop hat mich aufgehalten. Ich bin bei Rot über die Straße gelaufen.“ Damit war die Sache für das Mädchen erledigt und für ihren Chef auch.
„Kommen Sie doch gleich mal zu mir ins Büro!“ rief er ihr zu, bevor er in seinem Zimmer verschwand.
Einige Minuten später saß Clivia ihm gegenüber.
„Ich möchte mich noch einmal mit Ihnen über Ihren Verlobten unterhalten. Ich glaube, ich habe einen Job für ihn. Ich habe gestern abend noch mit einem Geschäftsfreund gesprochen.“ . Das Mädchen warf ihrem Chef einen Blick zu, der mehr sagte als Worte.
„Danke, Mr. Fuller. Ich wollte sowie so noch mit Ihnen darüber reden. Marty kommt morgen zurück.“
Er nickte. „Ich weiß. Der Mann, von dem ich sprach, wird ihm trotz seiner Vorstrafe einen Job geben. Marty kann von Glück reden, daß er Sie als Fürsprecherin hat. Wer stellt schon einen entlassenen Zuchthäusler ein? Sie wissen ja, wie schwer selbst Sie es hatten, bevor Sie bei mir anfingen. Ein selbstgefälliges Lächeln erschien auf seinem hageren Gesicht.
„Sie haben recht, Mr. Fuller. Ich würde heute noch nach einem Job suchen, weil die Leute keine Gangsterbraut einstellen wollten.“
Derrik Fuller schüttelte den Kopf. Er konnte offenbar nicht verstehen, daß jemand ein Mädchen wie Clivia vor die Tür setzte, nur weil ihr Verlobter an einem Bankraub beteiligt gewesen war.
„Sie sagten, er werde morgen entlassen? Hm, bringen Sie ihn vorerst nicht hierher. Ich gebe Ihnen noch Bescheid, wann er sich bei meinem Geschäftsfreund vorstellen kann.“
„Danke, Mr. Fuller. Ich werde es Marty ausrichten.“ Das Mädchen spürte den prüfenden Blick ihres Chefs und ahnte, was kommen würde, als er sich räusperte.
„Clivia, ich verstehe einfach nicht, daß ein Mädchen wie Sie sich zu einem Burschen hingezogen fühlt, der fünf Jahre wegen Bankraubes gesessen hat.“ Wie oft hatten sie schon darüber gesprochen, aber er kam immer wieder auf dieses Thema zurück. Clivia seufzte.
„Das können Sie eben nicht verstehen, Chef. Ich habe Marty Jefferson vor sechs Jahren kennengelernt. Damals ging es mir nicht gut. Er hat mir wieder Mut gemacht und über die Krise, die ich damals durchmachte, hinweggeholfen. Natürlich hatte ich keine Ahnung, daß das ,große Geschäft', von dem er immer sprach, ein Bankeinbruch war.“
„Aber jetzt wissen Sie es! Trotzdem haben Sie weiter zu ihm gehalten.“
„Das ist nun einmal so. Ich glaube, Marty braucht mich jetzt genauso, wie ich ihn damals gebraucht habe.“
„Sie müssen es wissen. Ich will ja nur Ihr Bestes“, sagte er in väterlichem Ton. Der Blick, den er dabei auf ihre Knie warf, war aber nicht väterlich. Clivia schien es nicht zu bemerken.
„Mr. Fuller, ich habe noch eine Bitte an Sie: Darf ich morgen wegbleiben? Ich möchte Marty in Scranton abholen.“
„Meinetwegen. Wann kommt er denn ’raus?“
„Um zwölf Uhr. Ich wollte mit dem Zug hinfahren.“
Damit war das Gespräch beendet, und Clivia Vanderbild ging an ihre Arbeit. Während sie sich um die eingegangene Post kümmerte, waren ihre Gedanken bei Marty Jefferson, dem Mann, von dem seine Kollegen glaubten, er habe sie um eine halbe Million Dollar betrogen.
Wenn sie geahnt hätte, welche Gewitterwolken sich über dem Haupt ihres Verlobten zusammenballten, dann hätte sie sicher nicht mehr ruhig sitzen können.
Scranton, 30 Januar, 8 Uhr morgens.
Das kleine eiserne Seitentor der Haftanstalt wurde geöffnet. Der Mann im einfachen, etwas altmodischen Straßenanzug sah sich blinzelnd um. Hinter ihm erschien die breitschultrige Gestalt eines Uniformierten.
„Alles Gute, Jefferson“, sagte Leutnant Jackson, um dann mürrisch hinzuzufügen: „Ich hoffe, Sie niemals wiederzusehen. Sie haben Glück gehabt, daß der Direktor so milde mit Ihnen verfahren ist. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten Sie die letzte Nacht in der Dunkelheit geschlafen, damit Ihnen die Lust am Wiederkommen vergeht.“
Jefferson drehte sich um. „Leutnant, ich wünsche Ihnen nur, daß Sie nicht eines Tages aufwachen und ein Messer in Ihrem Rücken finden. Die Boys im Bunker sind höllisch scharf auf Ihre Haut.“
Der Leutnant lachte nur. Dann schloß er das große Tor. Marty Jefferson setzte sich mit seinem Bündel unter dem Arm in Bewegung.
Das Zuchthaus lag etwas außerhalb von Scrarton. Schräg gegenüber vom Haupttor befand sich eine kleine Kneipe. Der Wirt lebte hauptsächlich davon, Zuchthausbesuchern, Anwälten und Aufsehern heiße Hamburger oder Dosenbier zu verkaufen. Auf diese Kneipe steuerte Jefferson zu.
Er hatte Clivia nicht von seiner vorzeitigen Entlassung benachrichtigen können. Sie würde ihn erst gegen Mittag abholen.
Er setzte sich an den Tresen und sah sich unbehaglich um. Er war der einzige Gast in dieser Pinte. Der Wirt im angegrauten Kittel, der hinter der Theke stand, kam herbei.
„Was darf's sein, Sir?“
„Kaffee“, brummte Jefferson.
Der Keeper ging zu seiner Kaffeemaschine. „Mit Milch?“ fragte er.
„Ich habe einen Kaffee bestellt, zum Teufel! Sie fallen mir auf den Wecker mit Ihrer Fragerei.“
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