Allein deshalb war Holly misstrauisch dem Mann gegenüber, der ihrer Schwester zurzeit Gesellschaft leistete.
Alexis mochte ein weltbekannter Superstar sein, aber in Liebesdingen benahm sie sich wie ein schüchterner, unerfahrener Teenager und ließ sich von charmanten Männern einlullen. Dummerweise hatte es ihre Schwester nicht leicht, wenn es um Männer, neue Bekanntschaften und sogar um alte Freunde ging.
Menschen wurden merkwürdig, wenn Geld im Spiel war.
Holly hatte in den vergangenen Jahren oft miterleben müssen, dass Alexis ausgenutzt und ausgebeutet worden war. Es kam immer wieder vor, dass vermeintliche Freunde, Bekannte und sogar Familienmitglieder von Alexis’ Reichtum oder ihren Beziehungen profitieren wollten. Holly kannte sicherlich nicht alle Geschichten, in denen ihre Schwester irgendjemandem Geld geliehen oder einen Gefallen getan hatte, aber sie kannte genügend solcher Storys, um selbst misstrauisch zu werden, wenn plötzlich jemand auf der Bildfläche erschien, der vorher dort nicht gewesen war.
Froh, das Zimmer und vor allem die Geräuschkulisse zu verlassen, lief sie durch den Flur und sagte sich, dass sie erleichtert sein konnte, dass sie selbst keine berühmte Sängerin war wie ihre Schwester. Sie hatte keine Probleme, die damit zusammenhingen, dass ihre Mitmenschen sie lediglich ausnutzen wollten.
Wer hätte von ihr auch profitieren wollen?
Sie war Literaturwissenschaftlerin und arbeitete an ihrer Doktorarbeit über Geoffrey Chaucer. Niemand interessierte sich für eine Neunundzwanzigjährige, die des Mittelenglischen mächtig war, in einem Restaurant jobbte und in einer winzigen Wohnung in West Hollywood zur Miete lebte. Ihre Besitztümer beinhalteten keine Luxusvilla in Brentwood inklusive Pool und Aufnahmestudio und auch kein Strandhaus in Malibu. Das Einzige, was sie in Hülle und Fülle besaß, waren Bücher und Joggingschuhe. Sie war der absolute Durchschnitt und ganz anders als ihre berühmte Schwester, deren Gesicht weltweit auf Werbeplakaten zu sehen war. Und das war gut so.
Holly beneidete Alexis nicht darum, ein Superstar zu sein, der nicht einmal unerkannt eine Packung Tampons kaufen oder unbeschwert einen Drink zu sich nehmen konnte, ohne am nächsten Tag irgendeine Schlagzeile über einen angeblich unerfüllten Kinderwunsch oder ein schweres Alkoholproblem lesen zu müssen. Weil Holly niemals das Rampenlicht im Dunstkreis ihrer Schwester gesucht hatte und lieber ihr eigenes Ding machte, war es für sie kein Problem, in einer Drogerie Tampons zu kaufen und sich in aller Öffentlichkeit die Kante zu geben.
Und wenn sie mit einem Mann Sex hatte, musste sie sich keine Sorgen machen, dass er womöglich mit einer versteckten Kamera Videoaufnahmen machte und diese an die Presse verkaufte oder sie erpresste. Wenn sie mit einem Mann schlief, musste sie sich lediglich darüber Gedanken machen, ob er verheiratet war und wie sie ihn am nächsten Morgen wieder loswerden sollte, aber nicht darüber, von ihm erpresst zu werden.
Das Leben war sehr viel leichter, wenn man kein Superstar war und wenn man nicht von der eigenen Mutter gemanagt wurde, die sich in jeden Aspekt des eigenen Lebens einmischte.
Holly hatte das Glück, dass sich ihre Mom nicht großartig dafür interessierte, was in ihrem Leben ablief, weil sie seit Alexis’ frühester Kindheit nur mit deren Karriere beschäftigt gewesen war. Als Kind und als Teenager, der einige Zeit lang bei den Großeltern leben musste, weil ihre Mom zusammen mit Alexis in New York gewohnt hatte, war Holly oft eifersüchtig und sogar wütend gewesen, dass ihre Mom sich nie um sie gekümmert hatte. Jedenfalls nicht so sehr wie um Alexis.
Früher hatte sie ständig irgendetwas angestellt, um die Aufmerksamkeit ihrer Mom zu erregen, und sie hatte sich den Kopf zerbrochen, warum Alexis ihr so viel wichtiger gewesen war.
Heute war sie darüber hinweg, dass Alexis die Nummer eins ihrer Mom war, und sie sah die Vorteile darin, von ihrer Mom nicht allzu oft beachtet zu werden. Es gab keine nervenaufreibenden Gespräche über Hollys Berufswahl und die schlechten Perspektiven einer Literaturwissenschaftlerin auf dem derzeitigen Arbeitsmarkt. Über den mehrmaligen Wechsel ihres Hauptfaches am College hatte ihre Mom nie ein Wort verloren. Und Hollys Nasenpiercing schien sie damals nicht einmal bemerkt zu haben. Auch hatte sich ihre Mom noch nie in Hollys Freundschaften eingemischt oder sich darüber beschwert, dass sie nie einen festen Freund mit nach Hause brachte. Und von Hollys letzter Beziehung hatte sie nicht einmal gewusst.
Im Gegensatz zu ihrer Schwester hätte Holly vermutlich sogar losziehen, einen Stripper aufreißen und in Las Vegas heiraten können, ohne dass ihre Mom deshalb ausgeflippt wäre.
Ihr konnte es nur recht sein.
Irgendwann zwischen ihrem Highschoolabschluss, den ihre Mom verpasst hatte, weil Alexis an jenem Tag bei Oprah Winfrey aufgetreten war, und der Orientierungswoche am College, die Holly in Begleitung von Pamela, der Assistentin ihrer Mom, durchgestanden hatte, weil diese wegen Vertragsverhandlungen in New York gewesen war, hatte sich Holly entschieden, dass es ihr egal war, was ihre Mom tat oder nicht tat.
Wenn sie jemanden zum Reden brauchte, dann wandte sie sich nicht an ihre Mutter, sondern an Alexis. Das Verhältnis zu ihrer Schwester war sehr viel stärker und enger als zu ihrer Mom.
Deshalb verbrachte Holly nicht gerade wenig Zeit bei Alexis in deren Villa und übernachtete oft bei ihr, auch wenn sie in Zukunft das Gästezimmer am anderen Ende des Flurs beziehen würde, sollten Taylor und Alexis nun regelmäßig auf Tuchfühlung gehen.
Eigentlich wusste Alexis immer, was in Hollys Leben gerade vor sich ging. Holly hatte vor ihrer Schwester keine Geheimnisse und hätte ihr sogar ihr Tagebuch zum Lesen gegeben, wenn sie jemals eines geführt hätte. Als sie mit fünfzehn ihre Unschuld an Pete Comyn aus dem Abschlussjahrgang verlor und sich in ihn verknallt hatte, weil er den Othello im Schultheater gespielt hatte, war Alexis eingeweiht gewesen. Alexis war auch diejenige gewesen, die gewusst hatte, dass Holly mit neunzehn nicht etwa nach Italien geflogen war, um dort an einem Universitätsausflug teilzunehmen, wie sie es ihrer Mom weisgemacht hatte, sondern um mit ihren Freundinnen Urlaub zu machen. Und als Holly mit einundzwanzig geglaubt hatte, schwanger zu sein, hatte sie es lediglich ihrer Schwester erzählt. Ihre Mom wusste bis heute nicht, dass Holly Blut und Wasser geschwitzt hatte, bis sie einen Test gemacht hatte und der negativ ausgefallen war.
Während sie im Dunkeln über den Flur schlich und das letzte Zimmer anpeilte, hinter dessen Tür sich ein weiteres Gästezimmer befand, überlegte Holly voller Unbehagen, dass sie nie Geheimnisse vor Alexis gehabt hatte – bis vor ein paar Monaten.
Ehrlich gesagt wusste sie selbst nicht, weshalb sie ihrer Schwester nicht von Oliver erzählt hatte. Vielleicht hatte sie geahnt, dass Alexis nicht begeistert sein würde, dass Holly mit einem Mann ausging, der achtzehn Jahre älter war. Vielleicht hatte sie sich die ganze Diskussion ersparen wollen. Und vielleicht hatte sie von Anfang an geahnt, dass ihre Beziehung zu Oliver nur Probleme geben würde, denn alle Vorzeichen waren sichtbar gewesen.
Dummerweise hatte sie ihren Verstand komplett ausgeschaltet und war sehenden Auges in ihr Verderben gerannt. Jetzt war das Chaos perfekt! Und das Blöde an der Situation war, dass sie nicht einmal mit Alexis darüber reden konnte, weil sie nicht wollte, dass ihre Schwester erfuhr, wie dumm sie gewesen war.
Wahrscheinlich sollte Holly in der nächsten Zeit abstinent leben und Abstand zu Männern nehmen, um nicht in neue Schwierigkeiten zu geraten, überlegte sie zerknirscht, als sie das Zimmer betrat und die Umrisse des Bettes im Dunkeln ausmachte.
Unter ihren Fußsohlen konnte sie den weichen Teppich fühlen, und sie war froh, dass sich Alexis auch in diesem Gästezimmer für ein Boxspringbett entschieden hatte, weil sie mit dem Schienbein gegen die Bettkante stieß, die in diesem Fall weich gepolstert war. Weich war auch die Bettdecke, die Holly anhob, bevor sie sich ins Bett legte und hoffte, wieder einschlafen zu können, ohne an das Sexleben ihrer Schwester oder ihre eigenen schlechten Entscheidungen bezüglich ihrer eigenen Sexpartner denken zu müssen ...
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