Angestrengt kämpfte sie darum, sich zu entspannen. Die Fahrt, die vor ihr lag, war lang und es gab nichts, was sie tun konnte, bis sie in San Andrés ankamen. Einen Augenblick überlegte sie, bereits in San Jose auszusteigen, denn dort war das Polizeirevier. Aber auch wenn es gegen jede Logik schien - erst musste sie sich mit Sadik absprechen. Er würde festlegen, was zu tun war. Danach konnte sie die Vermisstenanzeige für die beiden immer noch aufgeben.
14. Juni 2024, Freitag, 06:00 Uhr
In Guatemala
Nur das jahrelange und unermüdliche Training ermöglichte La'ith die nötige Beherrschung, nicht zu stöhnen, als er langsam aus dem Nebel auftauchte.
Die Kopfschmerzen waren unerträglich. Es fühlte sich an, als hätte ihm jemand einen Ring um die Stirn gelegt, der viel zu eng war. Der Schmerz hämmerte im Rhythmus des Pulsschlages und ließ dabei farbige Schlieren hinter seinen geschlossenen Lidern flimmern.
Angestrengt rekapitulierte er, an was er sich erinnerte.
Guatemala. Sie waren in Mittelamerika, in einem kleinen Dorf. Wegen des Jungen.
Seine Erinnerung funktionierte, stellte er fest. Und im selben Moment fiel ihm Tiana ein. Vor seinem geistigen Auge sah er ihre zierliche Gestalt im Schlamm liegen, auf diesem Holzplatz, im strömenden Regen. War sie tot?
Der Gedanke fühlte sich an, als würde eine Faust seine Brust umschließen und erbarmungslos zusammendrücken. Rasch verdrängte er ihn. Er musste jetzt an sich denken. Angestrengt versuchte er sich zu orientieren und lauschte. Es war nicht leicht, neben dem Hämmern in seinem Schädel und dem Rauschen des Blutes in den Ohren ein Geräusch auszumachen, und eine Weile vernahm er gar nichts. Dann hörte er irgendwo Wasser tropfen, leise, aber stetig.
Um zu erfahren, wo er sich befand, hob er die Lider einen winzigen Spalt. Aber er sah nichts. Dunkelheit umgab ihn.
Doch, da … war etwas.
Ein Schimmer, den er trotz geschlossener Augen wahrnahm. Kein natürliches Licht, sondern … eine Lichtsignatur. Er konnte sie nicht direkt sehen, denn dazu hätte er den Kopf heben müssen. Undenkbar …
Er war tatsächlich nicht allein. Jemand hielt sich nahe bei ihm auf und derjenige war ein Energienutzer. Es konnten also weder Tamira noch Tiana sein.
Ein Fremder. Vielleicht die Person, die sie - verborgen im Wald - vorher schon beobachtet hatte?
Mühsam unterdrückte er den Drang, die Handballen auf die pulsierenden Schläfen zu pressen. Schmerzen durften ihn nicht beeinträchtigen, nicht sein Denken und erst recht nicht sein Handeln. Er war mit diesen Empfindungen großgeworden und hatte gelernt, damit umzugehen.
Lage analysieren, rief er sich zur Ordnung. Was war passiert? Wo befand er sich? Hatte es jemand geschafft, ihn außer Gefecht zu setzen? Wenn ja - wie?
Es war sinnlos. Die Kopfschmerzen ließen ihn keinen klaren Gedanken fassen. Stattdessen versuchte er herauszufinden, ob er verletzt war.
Vorsichtig probierte er sich zu bewegen, was ihn scharf die Luft einziehen ließ. Sein rechter Arm, seine Hüfte, seine Wirbelsäule und seine Rippen … Alles tat so weh, dass er weitere Versuche sofort unterließ.
So leise das Geräusch, das er gemacht hatte, auch gewesen sein mochte, es war gehört worden. Er vernahm ein Rascheln und Schritte, die sich näherten. An seiner Seite verharrten sie, dann klickte ein Feuerzeug und gleich darauf drang der angenehme Geruch von Bienenwachs in seine Nase.
Eine Weile herrschte Stille, dann stellte eine männliche Stimme leise fest: "Du bist wieder aufgewacht …"
Es klang erleichtert.
Die Unterlage, auf der er lag, gab an seiner rechten Hüfte etwas nach. Jemand setzte sich an seine Seite. Vorsichtig schob sich eine Hand unter seinen Kopf, hob ihn behutsam an und ein Gefäß wurde an seine ausgetrockneten Lippen gehalten.
"Trink", forderte die Stimme ihn leise auf, "aber langsam."
Schon beim ersten Schluck musste er husten. Die Erschütterung verursachte stechenden Schmerz in der Brust und er schnappte nach Luft.
"Es schmeckt schlimm, ich weiß, aber es wird dir helfen."
La'ith hatte Durst, seine Zunge klebte am Gaumen. Der Sprecher hatte zwar recht und es war ein grauenhaft schmeckendes Gebräu, doch er leerte den Becher, ohne noch einmal innezuhalten.
Sein Kopf wurde vorsichtig wieder abgelegt, die Hand zurückgezogen. Ein leises Plätschern war zu hören, dann legte sich etwas Kühles auf seine Stirn.
"Hast du Schmerzen?"
Der Sprecher sprach spanisch mit ihm, doch La'ith hatte nicht vor zu verraten, dass er ihn verstehen konnte.
Statt einer Antwort öffnete er jetzt langsam die Augen.
Neben ihm saß ein junger Mann mit schwarzen Locken, einem Dreitagebart und den faszinierendsten Augen, die er je gesehen hatte. Er hatte eine Kerze angezündet, die auf einem kleinen Tischchen am Bettrand stand. Die sacht flackernde Flamme beleuchtete sein freundliches Gesicht und warf zuckende Schatten an die Wand hinter ihm.
Der Fremde ließ die Musterung geduldig über sich ergehen und erwiderte La'iths Blick offen. Als keine Antwort kam, wiederholte er seine Frage. Doch die einzige Reaktion, die er erhielt, war ein verständnisloser Blick.
Er seufzte leise, dann zog er kurz die Augenbrauen zusammen, als müsse er überlegen. "Schmerzen?", fragte er nun auf Englisch.
Jetzt sollte er seine Antwort bekommen. La'ith nickte kaum erkennbar und schloss wieder die Augen.
"Du … gefallen", hörte er und merkte, dass der junge Mann sich mühsam auf die Worte besinnen musste. "Gefunden … im Wald."
Im Wald?
La'iths letzte Erinnerung war der riesige Holzlagerplatz und Tiana, die im roten Schlamm lag …
Er selbst hatte am Rand des Plateaus gestanden und seinen Blick über den Dschungel schweifen lassen. Am Grund des Abhanges war Wald gewesen, dichter grüner Regenwald.
War er dort hinuntergestürzt? Das würde erklären, warum er sich kaum bewegen konnte. Dann durfte er froh sein, noch am Leben zu sein. Er war schließlich nicht unsterblich und mit dem Kopf an einen dieser Bäume zu schlagen, würde er auch mit seiner Fähigkeit, Verletzungen schneller als bei anderen heilen zu lassen, nicht überstehen.
"Hast du mich gefunden?", fragte er leise.
"Nicht ich."
Eine Bewegung ließ erkennen, dass der Mann aufgestanden war. Schritte entfernten sich und La'ith hörte ein leises Knarzen wie von einer schlecht geölten Tür. Beißender Raubtiergeruch stieg ihm in die Nase.
Erschrocken öffnete er die Augen und wollte sich aufrichten. Für die abrupte Bewegung zahlte er sofort mit neuen, stechenden Schmerzen. Sein Rücken fühlte sich an, als wäre er mitten durchgebrochen. Ächzend kniff er die Augen wieder zu und ließ sich zurücksinken.
"Estar tranquilo, ruhig." Der Mann nahm seine linke Hand.
La'ith spürte Haare unter den Fingern, nein, es war seidiges, weiches Fell. Erneut hob er die Lider.
Und blickte direkt in die gelben Augen eines schwarzen Jaguars.
Er erstarrte förmlich. Reglos musterte ihn die Raubkatze, wobei in ihrem Rachen ein dumpfes Grollen zu hören war.
Die Schönheit des Tieres verschlug ihm den Atem. Er konnte nicht umhin, es zu bewundern. Gebannt hing sein Blick daran. Die Augen glänzten fast golden, mit grünen Sprenkeln in der Iris. Das Fell, auf dem immer noch seine Hand lag, war nachtschwarz und das Kerzenlicht ließ es da, wo die stählernen Muskeln unter der Haut spielten, golden schimmern.
"Arrojo", meinte der junge Mann jetzt.
Arrojo, das spanische Wort für Mut, Kühnheit, Unerschrockenheit. Ein passender Name für diesen perfekten Jäger. Anscheinend waren die beiden sehr vertraut miteinander, denn als der andere seine Hand auf den schwarz glänzenden Kopf des Jaguars legte und ihn streichelte, kniff die Katze wohlig grollend die Augen zu.
Der junge Mann ergriff erneut La'iths Linke und hielt sie dem Tier vor das furchterregende halbgeöffnete Gebiss. Die schwarze Nase bebte, als sie den Geruch aufnahm. Erst als der Jaguar das Maul schloss, die Augen wieder zukniff und dann, erneut zufrieden grollend, mit dem Kopf an der Bettkante entlangstrich, wurde die Hand auf das Bett zurückgelegt. Der Eindringling war akzeptiert worden.
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