"Wir wissen, warum Sie hergekommen sind", fuhr der Mann fort. "Der Junge wird Ihnen nicht weiterhelfen können. Keiner von denen, die einmal bei uns zu Gast waren, wird es können. Dafür wurde gesorgt. Doch umsonst war Ihre Reise nicht. Sie haben uns quasi einen Dienst damit erwiesen, denn auch Sie stehen auf unserer Liste, ebenso wie Ihr Bruder und noch andere von Ihrer geheimen kleinen Organisation."
Die letzten Worte jagten ihr einen Schauer über den Rücken. Der Mann wusste von den Guardians und mit Sicherheit auch, wo sich das Hauptquartier befand. Und die Schule ist in Gefahr, erkannte sie mit Schrecken.
Bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, sprach er weiter. "Zwar war Ihre Ankunft nicht so früh geplant, doch das ist unerheblich. Natürlich werden Sie ebenfalls keine Erinnerung an uns und an diesen Ort haben, wenn Sie nach Carmelita zurückkehren. Aber das wissen Sie ja bereits."
Er murmelte leise etwas auf Spanisch, dann hörte Tiana eine ebenso gemurmelte Antwort. Sie war also die ganze Zeit nicht mit ihm allein gewesen.
"Wo bin ich?", stieß sie hervor und bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. An La'ith zu denken war gefährlich, denn dann drohte ihre mühsam aufrechterhaltene Beherrschung zusammenzufallen wie ein Kartenhaus.
"Was nützt es Ihnen, wenn Sie es wissen? Dieser Ort ist gut verborgen, niemand kennt ihn, niemand kann ihn finden."
Der Mann war kalt wie Eis. Einen Augenblick erwog sie, trotz seiner Warnung ihre Gabe anzuwenden, um ihn zum Reden zu bringen. Doch da war noch jemand im Raum. Und der Kerl hatte Recht: Solange sie zu niemandem Kontakt aufnehmen konnte, war es egal, wo sie sich befand. Sie würde allein klarkommen müssen.
Mühsam schluckte sie.
"Und wie geht es jetzt weiter?"
"Wir warten. Bald ist la dama Chel wach. Alles Weitere wird dann entschieden."
Schritte entfernten sich und das Klacken von Absätzen hallte im Raum. Sie blieb allein zurück. Aber erst als sie das Geräusch einer sich schließenden Tür hörte, brach sie in Tränen aus.
14. Juni 2024, Freitag, 05:30 Uhr
Carmelita, Guatemala
Ein sanftes Rütteln an der Schulter ließ Tamira zusammenfahren und erschrocken die Augen aufreißen. Ihr Blick fiel auf Romarus Mutter, die sich über sie beugte.
Verwirrt setzte sie sich auf. Wie spät mochte es sein? Draußen dämmerte es gerade erst, aber Nanita Vermosa war bereits angezogen. Es roch nach Kaffee und frischer Ananas.
Das Nachthemd, das sie gestern Abend von der freundlichen Frau bekommen hatte, schlackerte um ihren Körper, als sie frierend unter der gestreiften Decke hervorkroch. Ihre Schuhe waren von dem roten Schlamm befreit worden und standen neben dem Herd. Über den Lehnen der drei unterschiedlichen Küchenstühle hingen ihre Kleidungsstücke und sie schienen halbwegs trocken zu sein.
Die Frau raffte sie mit einem Griff zusammen, drückte sie Tamira an die Brust und drängte sie dann erneut in den kleinen Verschlag hinter dem Haus. Eine winzige Toilette und ein verzinktes Waschbecken neben der Badewanne boten die einzige Möglichkeit für die Hausbewohner, sich frisch zu machen.
Als Tamira zurückkam, stand eine Tasse dampfenden Tees neben einem Teller mit heißen Tortillas, Rührei, Ananas und gebackenen Bananen.
Tränen der Rührung stiegen ihr in die Augen. Das Frühstück war wahrhaft fürstlich und die Gastfreundschaft dieser Familie einfach überwältigend. Obwohl ihr die Kehle wie zugeschnürt war und sie setzte sich, um zu frühstücken, auch wenn sie keinen Bissen herunter zu bekommen glaubte.
Nanita Vermosa ermunterte sie zuzugreifen und rechtfertigte sich ein wenig verlegen für die Eile, mit der sie zum Essen drängte. Der Bus nach Flores würde in ein paar Minuten abfahren.
Während ihre Finger die duftenden Tortillas zerzupften, erwog Tamira noch einmal, den Wagen kurzzuschließen, um damit zurück ins Hotel zu fahren. Daran hatte sie gestern Abend schon gedacht, aber dann beschlossen, den Bus zu nehmen. Er war die beste Möglichkeit, von Carmelita wegzukommen. Und das musste sie unbedingt. Außerdem brachte sie es einfach nicht fertig, das Auto hier wegzufahren. Da war die leise Hoffnung, dass La'ith und Tiana doch noch …
Seufzend kaute sie das weiche Maisfladenbrot und schluckte mechanisch. Sie schmeckte nichts und aß nur, um die Frau nicht zu kränken.
Sadik und Trajan würden sich Sorgen machen. Der für gestern Abend vereinbarte Videochat hatte nicht stattgefunden und eine Nachricht von hier war lange überfällig. Wieder musste sie an ihre Schwester denken und sie fühlte sich schlecht dabei, ihr Sorge zu bereiten.
Aber viel mehr beschäftigte sie der Gedanke, was mit La'ith und Tiana geschehen war. Die Zweifel an ihrer Entscheidung, das Dorf zu verlassen, ließen sie nicht zur Ruhe kommen. War es richtig? Es fühlte sich an, als würde sie die Freunde im Stich lassen, einem unbekannten Schicksal überantworten, um sich davonzustehlen.
Draußen war eine Hupe zu hören. Der Bus.
Sie schluckte den letzten Bissen, trank den Tee aus, fiel der Frau um den Hals und umarmte sie fest, während sie Dankesworte stammelte und ihr erneut die Augen feucht wurden.
Nanita Vermosa erwiderte die Umarmung und schob sie dann zur Tür. Romarus Brüder hüpften trotz des frühen Morgens auf den Verandastufen herum und der Junge selbst lehnte am Pfosten des Vordaches und wartete auf sie, als sie aus dem Häuschen trat. Der Bus war gleichzeitig der Schulbus und die reichlich achtzig Kilometer lange Fahrt bis nach Flores würde - wenn es keine Zwischenfälle oder Hindernisse gab - zwei Stunden dauern. Also gegen acht Uhr könnte sie den Videochat führen. Nachmittags um zwei in England, dreizehn Stunden Verspätung. Viel Zeit bis dahin …
Der Diesel des klapprigen Busses brummte fast freudig auf, als der Fahrer nun den Gang einknüppelte und Gas gab. Das Gefährt bog langsam vom Dorfplatz auf die gerade Straße ein, die früher sogar die Landebahn für eine kleine Zweimotorige gewesen war, die in den Hochzeiten des Maya-Tourismus den Ort mit Waren versorgt hatte.
Es regnete wieder und im morgendlichen Zwielicht konnte sie den Dschungel dampfen sehen. Im Osten färbte sich die Wolkendecke orange.
Rumpelnd schaukelten sie am Toyota vorbei. Tamira sah den schweren Wagen unter der alten Armeeplane mit gemischten Gefühlen aus dem Blickfeld entschwinden.
Nun passierte der Bus das letzte Haus und die winkende Meute kleinerer Kinder blieb zurück.
Tamira sah aus dem Fenster. Es gab nichts zu sehen außer unterschiedlichen Grüntönen, die vorbeihuschten. Graue Wolken bedeckten den Himmel und der einzelne Scheibenwischer quietschte jämmerlich mit jedem Wischen. Der Dschungel rückte bis an den Straßenrand heran und manchmal ließ sich ein Tapir oder ein Pekari sehen. Bei Annäherung des Fahrzeuges verschwanden sie blitzartig im schützenden Grün.
Der Straßenzustand war miserabel und die ausgefahrenen Rinnen ließen die Passagiere auf den durchgesessenen Bänken hüpfen. Kreischen und ausgelassenes Geschrei zeugte von dem Spaß, den Romaru und die anderen Schulkinder dabei hatten.
Tamira wagte nicht den Kopf an die Scheibe zu lehnen, dafür rüttelte das Gefährt zu heftig. Wahrscheinlich musste der Bus in diesem Tempo fahren, um nicht in irgendeinem Schlammloch steckenzubleiben. Trotzdem ging es ihr nicht schnell genug.
Sie ließ ihren Blick schweifen. Keiner der fünf anderen Erwachsenen schien sich irgendwelche Sorgen zu machen. Die Kinder jubelten fröhlich, wenn das schaukelnde Gefährt mal wieder in eine Schieflage geriet. Der Fahrer mit seinem wettergegerbten Gesicht und dem qualmenden Zigarillo zwischen den Fingern der rechten Hand sang lauthals und falsch das Lied mit, das aus dem Radio quäkte. Einmal wandte er den Kopf und schenkte ihr ein breites, zahnloses Grinsen. Sie lächelte zurück und er freute sich.
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