Allerdings stellte Bettina schon bald fest, daß das nicht zutraf. Ein großer Teil der Mädchen – sie waren durchweg aus sehr reichen Häusern, verwöhnt und verzogen – gab sich nicht die geringste Mühe, irgend etwas zu lernen. Sie benutzten den Aufenthalt im Internat nur dazu, die Zeit totzuschlagen, bis sie sich erwachsen nennen durften.
Dotty Glenford war eine der besten Schülerinnen. Sie war zwar nicht fleißig, aber begabt und von rascher Auffassungsgabe. Immer wurde sie den anderen als leuchtendes Beispiel vorgehalten. Niemand der Lehrpersonen schien zu durchschauen, daß sie eine Doppelrolle spielte. Den Erwachsenen gegenüber gab sie sich sanftmütig, gehorsam, eifrig und ungeheuer brav, sobald sie mit ihren Mitschülerinnen allein war, zeigte sie sich keck, vorwitzig, leichtsinnig und voller Spottlust. Bettina wußte oft nicht, welche die wirkliche Dotty war. Aber sie bewunderte ihre Zimmergenossin von ganzem Herzen, allein schon deshalb, weil sie imstande schien, jede Situation mit Leichtigkeit zu meistern. Aber Dotty behandelte sie nach wie vor wie Luft.
Bettina war diese kühle Ablehnung eines Menschen, zu dem sie sich von Herzen hingezogen fühlte, das Schmerzlichste von allem. Sie konnte nicht begreifen, warum Dotty so böse auf sie war, war überzeugt, daß der Fehler bei ihr liegen müßte. Anscheinend hatte sie Fehler, die ihr selber nicht bewußt waren. Mit ihrer Pflegeschwester Ursel war es ihr ja ganz ähnlich ergangen, wenn auch aus anderen Gründen. Sie hatte Ursel ehrlich gern gehabt, dennoch war es ihr nicht gelungen, Gegenliebe zu erwecken.
Bettina fühlte sich sehr unglücklich. Sie wagte nicht einmal mehr den Versuch, aus sich herauszugehen, Freundinnen zu gewinnen, sondern zog sich nur immer mehr in sich selber zurück. Oft spielte sie mit dem Gedanken, bei Nacht und Nebel auszureißen und das verhaßte Internat zu verlassen.
Eines Morgens, als Bettina gerade mit ihrer Klasse von einer Besichtigung des Musée d’Art et d’Historie zurückkam, fing Jeanette Legrand den Kunstgeschichtslehrer Monsieur Züngli in der Haustür ab. »Entschuldigen Sie bitte, Monsieur«, sagte sie, »wenn ich Ihnen Bettina Steutenberg entführe … Madame Jeuni wünscht sie zu sprechen.«
Bettina erschrak. Zu Madame Jeuni gerufen zu werden, das konnte nichts Gutes bedeuten. Mit hängendem Kopf folgte sie der Sekretärin, die ihr die Tür zum Allerheiligsten der Vorsteherin öffnete. Zögernd, mit gesenktem Blick, trat sie ein.
Aber entgegen ihrer Erwartung klang die Stimme Madame Jeunis überraschend freundlich. »Bettina«, sagte sie herzlich, »Sie haben Besuch bekommen!«
Bettina hob die Augen und sah in ein männliches, wetterhartes Gesicht, braune Augen, die von zahlreichen Fältchen umgeben waren. Ihr Herz setzte für eine Sekunde aus vor Freude und Schreck. Ohne daß es ihr jemand gesagt hatte, wußte sie, daß dieser Mann ihrVater war – Stefan Steutenberg.
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