„Okay, dann bist du ab sofort der Stipe.“
Der junge Dragoslav traute sich nicht, den Trainer zu korrigieren. Obwohl es eigentlich ein kroatischer Vorname war, sollte er in seiner Belgrader Zeit für die Fußballwelt immer der „Stipe“ bleiben. In der Schule nannte man ihn „Stepa“, nun „Stipe“. Für Jelana ist er derweil der „Liebling“ oder das „Schatzi“. Bis er zum „Stepi“ wird, soll es noch eine Weile andauern.
Mittlerweile ist Dragoslav 18 Jahre alt und entwickelt sich zunehmend zu einer tragenden Säule in der zweiten Mannschaft. Aufmerksam beobachtet der Verein seine Entwicklung, auch die Profiabteilung. Im Sommer 1966 lädt ihn die Belgrader Stadtauswahl zu einem Turnier nach Nürnberg ein. Zum ersten Mal in der Geschichte des jugoslawischen Fußballs nimmt ein Spieler des OFK an einem solchen Turnier teil.
Während Dragoslav in Nürnberg ist, wird in Jugoslawien der zweitmächtigste Mann im Staat, Innenminister und Polizeichef Aleksandar „Leka“ Ranković, von seinen Ämtern enthoben. Die Stimmung im autoritären Jugoslawien ist kurz vor dem Explodieren. Aufgrund dieser Spannungen wird die Mannschaft in Nürnberg unter Beobachtung des jugoslawischen Geheimdienstes gestellt, um eine Flucht der Spieler ins kapitalistische Ausland zu verhindern. Auch das Hotel durften die Spieler nicht verlassen.
Kurz nach dieser Episode ist Dragoslav so weit, und er wird in die erste Mannschaft von OFK Belgrad befördert. Im Pokalendspiel 1966 schlägt der OFK Dinamo Zagreb vernichtend mit 6:2. Unmittelbar nach dem Sieg verlassen 14 Profis den Verein und gehen ins Ausland. Damit steht der OFK mit einem Mal beinahe ohne Spieler da. Der Vorstand muss sofort handeln.
Jetzt schlägt die Stunde von Dragoslav. Wenige Tage später feiert er seine langersehnte Premiere bei den Profis. Es ist ein Vorbereitungsspiel gegen Kruševac. Stolz steigt er in den Bus der ersten Mannschaft. Auf der Fahrt kommt er erstmals dazu, die Ereignisse der letzten Tage, seinen rasanten Karrieresprung zu verarbeiten. Er nimmt sich vor, alles ihm Mögliche zu geben, seine Chance zu nutzen.
In der Gästekabine von Kruševac riecht es so muffig wie in der ganzen Stadt. Die Trikots haben einen V-Ausschnitt, der bei den jungen OFK-Spielern beinahe bis zum Bauchnabel reicht. Das Spiel findet auf einem alten Aschenplatz statt. Die Mannschaft von Kruševac besteht aus alten Haudegen, die mit allen Wassern gewaschen sind. Die frischgebackenen Profis aus Belgrad haben einen schweren Stand. Dragoslav wird gefoult und rutscht dann mit der Brust über die Aschenbahn. Er blutet, kann vor Schmerz nächtelang kein Auge zutun. Der OFK verliert das Spiel.
Die Saison 1966/67 bestreitet der OFK mit den verbliebenen Nachwuchsspielern inklusive Dragoslav. Die „jungen Wilden“ kämpfen von Anfang an gegen den Abstieg, verlieren viele Spiele unglücklich, am Ende landet der OFK dann tatsächlich auf einem Abstiegsplatz. Aber die Glücksgöttin ist dem Traditionsklub hold. Die Liga wird von 16 auf 18 Vereine aufgestockt, so dass sich der OFK in einem Relegationsspiel gegen Priština (heute die Hauptstadt des Kosovo) durchsetzen kann.
Einige Monate zuvor, im April 1967, rasselt in der Wohnung der Stepanovićs das Telefon. Der OFK-Geschäftsführer Milorad Lisanin ist am Apparat: „Komm sofort ins Klubheim, du musst unterschreiben!“ Klick.
Dragoslav macht sich sofort auf den Weg. Sein Herz hüpft. Die Möglichkeit, seinen großen Traum wahr werden zu lassen, ist endlich da. Mit seiner Unterschrift unter seinen ersten Profivertrag verpflichtet er sich für vier Jahre beim OFK. Sein Gehalt beträgt monatlich 250.000 Dinar, ca. 200 Euro. Der Vertragsabschluss wird mit Jelena ausgiebig in einem der vielen Bootshäuser an der Save gefeiert. Beide Elternteile sind nicht anwesend, denn immer noch verweigern sie Dragoslav den Respekt und die Anerkennung seiner sportlichen Leistungen.
Unmittelbar nach seiner Beförderung in den Profikader beginnt der kometenhafte Aufstieg des Dragoslav Stepanović. Rasch ist er in ganz Belgrad als aufstrebender Nachwuchsspieler bekannt. Nur Jelena sollte stets behaupten, sie habe den Aufstieg ihres Freundes nicht wahrgenommen. Doch eines Tages hält ihr der Vater – Abonnent der Zeitung Politeka – einen Spielbericht unter die Nase: „Dein Freund ist ja Fußballspieler beim OFK!“
Jelenas komplette Familie ist Fan von Roter Stern Belgrad. Vater Jovanovićs Vorbehalte gegenüber Fußballern im Allgemeinen – und denen vom falschen Verein im Besonderen – erschweren das Verhältnis zu Dragoslav weiter: „Der hat doch nur Mädchen im Kopf, ist nicht treu und lässt den Star raushängen!“ Insgeheim hat der Vater Angst, seine begabte Tochter könnte durch Dragoslav ihr geplantes Medizinstudium aus den Augen verlieren.
Doch Dragoslav und Jelena lassen sich von der Ablehnung ihres Vaters nicht beirren. Im April 1969 heiraten sie. Im kommunistischen, serbisch-orthodoxen Belgrad sind kirchliche Trauungen Mitgliedern der kommunistischen Partei streng verboten und auch für Normalbürger äußerst ungern gesehen, doch Dragoslav möchte seine Jelena unbedingt auch in einer Kirche heiraten. Selbst die nahezu unverhüllte Drohung, ihn aus der Nationalmannschaft zu werfen, bringt ihn nicht von diesem Ziel ab. Da Dragoslav in Belgrad bereits einen Prominentenbonus genießt, wird schließlich eine in anderen Ostblockländern undenkbare Ausnahmegenehmigung erteilt, so dass die Liebenden auch vor Gott in den Stand der Ehe treten dürfen. Sein tiefverwurzelter Glaube an Gott und seine Hartnäckigkeit haben hier förmlich Berge versetzt. Auch als man Dragoslav bittet, wenigstens darauf zu verzichten, sich beim Betreten des Rasens vor einem Spiel öffentlich zu bekreuzigen, und dieses Ritual in der Kabine zu vollziehen, lautet seine strikte Antwort: „Kommt nicht in Frage!“ Sein unerschütterliches Bekenntnis zu seinem Glauben macht auch jungen Menschen aus Belgrad Mut, sich zur Kirche zu bekennen und selbst einmal vor den Traualtar zu treten.
Jelena ist zu diesem Zeitpunkt bereits schwanger. Getreu dem serbischen Sprichwort: „Wer früh aufsteht und früh heiratet, macht nie einen Fehler“, hat Dragoslav sie geheiratet und damit der Familienehre Genüge getan.
Die Hochzeit ist ein rauschendes Fest, eine wilde Feier aus Musik, Tanz und Sliwowitz. Auf jedem Tisch steht eine Flasche des serbischen Nationalgetränks, man trinkt aus großen Gläsern. Spät in der Nacht, die Band spielt, die Gäste singen aus voller Kehle, tanzen und trinken, setzt sich die Sängerin der Band plötzlich auf Dragoslavs Schoß und flirtet ihn ungeniert an. Der Bräutigam selber findet das amüsant; bis seine frisch Vermählte einschreitet und unmissverständlich klarstellt, wer Frau Stepanović ist. Das Showgirl macht sich von dannen, und bis heute passt Jelena auf ihren Dragoslav auf – seit nunmehr über 43 Jahren.
Auch beim Fußball ist Dragoslav im Aufwind. Doch der Erfolg fällt ihm nicht einfach zu, er muss hart dafür arbeiten. Dragoslav ist kein Überflieger, sein Körper noch nicht athletisch genug. Aber er hat eine riesige Ausdauer, die seine Gegner immer wieder in die Verzweiflung treibt. Willenskraft, Disziplin und Kampfeslust sind seine mächtigsten Verbündeten. Seine technischen Defizite verhindern jedoch, dass man ihn im offensiven Mittelfeld einsetzt, seiner Lieblingsposition. In seinen Träumen kickt er in einer Liga mit Pelé, Eusébio und Dragan Džajić; in der Realität ackert er in der Verteidigung.
Kurz nach der Hochzeit tritt der OFK in der jugoslawischen Liga gegen den Favoriten Partizan Belgrad an. Vor 50.000 Zuschauern schlägt der OFK seinen Erzrivalen mit 2:1 nach Rückstand. Dragoslav schießt den Ausgleichstreffer. Vater Zivomir und sein Bruder Dragomir springen jubelnd auf. Partizananhänger bedenken die beiden lautstark mit unflätigen Gesängen. Als Dragoslav später stolz nach Hause kommt, um mit seiner Familie zu feiern, schreit ihn sein Vater an: „Hast du auch gehört, wie sie deine Familie beschimpft haben?“
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