Auch die Familie Stepanović lebt Anfang der 1960er Jahre auf nur wenigen Quadratmetern. Zusammen mit einer anderen Familie teilen sie sich zwei Zimmer, Küche, die Toilette draußen im Hof und das heiße Wasser am Badetag, stets ein Samstag.
Dragoslavs Mutter Rosa überzeugt die Mutter der Mitbewohner schnell mit ein paar kräftigen Ohrfeigen davon, der Familie Stepanović den Vorrang beim Baden zu überlassen. Für Dragoslav ist es das Schönste, wenn die Mutter die Badewanne mit heißem Wasser füllt und er nach dem Baden Musik im Radio hören kann: Schlager auf Belgrad 1. Seine liebste Zeit in der Woche.
Unter diesen Verhältnissen sind Konflikte an der Tagesordnung. Mutter Rosa Stepanović verteidigt die Familie besonders aggressiv. Sie kämpft aus Gewohnheit, hatte sie doch weitaus schlechtere Zeiten erlebt.
Der Feuerball über Belgrad hatte den Nachthimmel erhellt. Bis weit in die Provinz hinein war er sichtbar gewesen. Jene Unglücksnächte am 6. und 7. April 1941, in denen die deutsche Luftwaffe Belgrad bombardierte, hatten sich für immer in das Gedächtnis der Überlebenden eingebrannt. Tausende waren in diesen Nächten erstickt, verbrannt, in Fetzen gebombt worden. Es waren bleierne Tage.
Rosa Stepanović war 16, als die deutsche Wehrmacht 1941 in der Stadt einmarschierte. Sofort machten die Truppen Jagd auf Juden, Roma und Partisanen. Viele verschwanden, um nie wieder aufzutauchen. In den Konzentrationslagern von Sajmište und Banjica fanden über 50.000 Menschen den Tod.
Die Alliierten befreiten die Stadt nach drei Jahren des Schreckens. Die nun 19-jährige Rosa aber war gezeichnet vom Überlebenskampf und den Schrecken des Krieges. Die Brutalitäten der Soldaten, die mit der Besatzung verbundenen Erniedrigungen und Demütigungen hatten sie hart gemacht. Für den Rest ihres Lebens sollte es ihr schwerfallen, ihre Gefühle auszudrücken. Niemand hatte sie je weinen sehen. Auch nicht auf der Beerdigung ihres Vaters; nicht auf der ihres Mannes.
Dagegen nimmt sich der Alltag der Familie in den 1960er Jahren beinahe harmlos aus: Vater Zivomir arbeitet in einer pharmazeutischen Fakultät als Haustechniker. Mutter Rosa ist vormittags Köchin in der Mensa eines Studenteninternats, nur 500 Meter von der Wohnung entfernt.
Die Jahre vergehen, die Fußballleidenschaft von Dragoslav wächst. Als er 14 Jahre alt ist, beginnt der Fußball sein Leben zu bestimmen. Rund drei Stunden hat er dafür täglich. Um so viel wie möglich spielen zu können, schwänzt er die Schule. Er isst kaum, sondern spült sein Essen in der Toilette herunter – das spart wertvolle Minuten. Sein Traum: Er will Fußballer werden. Und endlich in einem richtigen Verein spielen, mit anderen trainieren und auf einem richtigen Platz spielen statt auf der Straße. Doch es bleibt vorerst ein Traum, zu hoch sind die Hindernisse.
Dann spricht ihn ein Mann auf dem Schulweg an: Inge Olareveć hatte einen Fußballverein namens „Mladi Proleter“ (junge Arbeiter) gegründet und suchte Spieler für seine Jugendmannschaft. Ein paar Positionen hatte er bereits mit einigen seiner elf Kinder besetzen können. Dragoslav lehnt erst ab, doch als Inge ihn immer wieder abpasst und beharrlich bittet, sagt er schließlich zu. Nur durften seine Eltern nichts davon erfahren! Er läuft die sechs Kilometer zwischen Wohnung und Trainingsplatz hin und zurück zu Fuß. Wenn es mal schnell gehen muss, nimmt Dragoslav auch gelegentlich die Straßenbahn ohne Fahrschein. Für den Bus ist kein Geld da.
Als er wieder mal bei seinem Opa ein paar Ferientage verbringt, erzählt er ihm von seinem großen Geheimnis. Dragoslav hatte ab sofort einen Verbündeten, den er auch dringend brauchte. Das tat gut, richtig gut. Endlich mit jemandem offen über die große Leidenschaft sprechen können, endlich nicht mehr die ganze Last auf den kleinen Schultern tragen müssen. Auch wenn sein Großvater nichts für ihn tun konnte, so war er sich seiner Solaridität und seiner Verschwiegenheit gewiss. Das reichte schon, er war nicht mehr allein damit.
In der Schule bekommt er Probleme mit seiner Musiklehrerin. Dragoslav liebt Musik, aber er kommt nur selten zu den Proben des Schulorchesters, in dem er Akkordeon spielt. Hinzu kommt die Verpflichtung für alle Schüler, die Lehrerin bei Opernbesuchen zu begleiten. Ihr Lieblingskomponist ist Verdi. Eine Qual für Dragoslav – er muss doch Fußball spielen!
Doch zunächst probiert er sich in anderen Sportarten: In der Marija-Bursać-Schule – benannt nach einer jugoslawischen Kommunistin, die als Partisanin im Zweiten Weltkrieg im Kampf gegen die Deutschen ihr Leben verlor – wird er mit elf Jahren zum Sportler des Jahres gewählt. In allen Disziplinen sticht er hervor. In Leichtathletik und beim Handball, der wichtigsten Sportart an der Schule, wird Dragoslav in die Belgrader Stadtauswahl berufen. Fußball aber ist der hohen Verletzungsgefahr wegen verboten. Dies hängt auch mit dem Desinteresse der politischen Führung an dem Sport zusammen: Staatspräsident Josip Broz, eher bekannt als Tito, ist Eishockeyfan – und fördert diesen Sport.
Dessen ungeachtet wächst die Begeisterung des nun 15-jährigen Dragoslav für den Fußball immer weiter. Immer mehr Zeit verbringt er auf den Straßen Belgrads statt in der Schule; stets den Druck im Nacken, bestraft zu werden oder von der Schule zu fliegen, sollte man ihn erwischen. Und immer begleiten ihn die Worte des alten Schaffners: „Wenn du da mal spielst, dann hast du es geschafft.“
Erste Liebe
1963 tritt plötzlich die zweite Liebe in sein Leben – in Gestalt der Leichtathletin Jelena Jovanović. Die hübsche Sportlerin, die zweimal die Belgrader Stadtmeisterschaft über die 100 Meter gewinnt, fällt ihm erstmals bei einem gemeinsamen Cross-Lauf über drei Kilometer auf. Damals gewinnt sie den Wettbewerb der Damen souverän. Dragoslav wird neugierig.
Nach dem Lauf nimmt er all seinen Mut zusammen und spricht sie an. An seine Worte kann er sich später nicht mehr erinnern, zu aufgeregt ist er. Jelena reagiert freundlich, aber zurückhaltend. Dragoslav ist begeistert von ihrer bescheidenen Art. Es gelingt ihm, Jelena zu einem Treffen zu überreden. Weitere Verabredungen folgen, bald schon gehen beide regelmäßig miteinander aus.
Ihre Treffen müssen sie jedoch vor Jelenas Eltern geheim halten: Ihre Eltern haben ihr jeden Kontakt zu Jungs verboten, bis sie 18 Jahre alt wird. Also begleitet Dragoslav seine neue Freundin über Monate hinweg auf dem Weg vom Schulbus nach Hause. Kurz vor dem Haus der Jovanovićs muss er sich jedes Mal aus dem Staub machen. Noch drei Jahre lang können die beiden ihr Geheimnis für sich behalten.
So geht es Tag um Tag, Woche um Woche. Jelena weist jeden Annäherungsversuch zurück. Dragoslav ist ob ihrer unzugänglichen Art so frustriert, dass er eines Tages die Beziehung spontan beendet.
Jelena ist am Boden zerstört. Sie hat noch nie einen Jungen geküsst und fürchtet sich davor. Dragoslav hat sie das nie gesagt, aber sie vertraut sich einer Cousine an. Die wiederum klärt Dragoslav über Jelenas Verhalten auf. Als sich die beiden erneut treffen, gesteht ihm Jelena unter Tränen, dass sie noch nie einen Jungen geküsst habe.
Jetzt muss Dragoslav lächeln. Vorsichtig nimmt er Jelenas Gesicht in beide Hände, beugt sich zu ihr vor und drückt ihr einen ersten, sanften Kuss auf die Lippen. Damit ist das Eis gebrochen. Und doch irritiert Dragoslav Jelenas Ablehnung, wenn das Gespräch auf Familie und Kinder kommt. Er weiß nicht, dass sie sich geschworen hat, niemals im Leben zu heiraten und Kinder zu haben.
Dragoslavs große Liebe: Jelena Jovanović mit 18 Jahren.
Jelena hasst das beengte Leben, das sie lebt. Als Älteste von drei Geschwistern hat sie das Privileg, zur Schule gehen zu dürfen. Ihre beiden jüngeren Schwestern müssen im Haushalt helfen. In der Schule gehört sie zu den Besten, sehr zur Freude ihres Vaters, der seine Tochter bereits als erfolgreiche Ärztin sieht. Nach der Schule muss sich Jelena um ihre jüngeren Geschwister kümmern. Freizeit hat sie kaum. Sie wohnt mit ihrer Großfamilie unter einem Dach. Um diesem Leben einmal entfliehen zu können, will sie unabhängig bleiben und keine eigene Familie gründen.
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