Dragoslav weiß nicht, was in Jelena vorgeht. Er versteht ja kaum, was in ihm selbst vorgeht. Er spürt zum ersten Mal, dass es neben seiner Liebe zum Fußball noch eine weitere Kraft gibt, die es zu entdecken gilt. Das Erwachsenwerden verwirrt ihn. Er zieht sich zurück. Die Prügel seiner Eltern, das ständige Versteckspiel für den Fußball belasten ihn mehr und mehr. Geborgenheit, Sicherheit und Freiheit findet er nur beim Fußball. Und nun ist da auch noch Jelena.
Die Schatten der Schule werden in dieser Zeit länger und länger. Dragoslav hat nachmittags Schule, schwänzt aber immer häufiger, um auch diese Stunden für Fußball nutzen zu können. Die für ihre Strenge bekannte Direktorin hat seit Langem den Verdacht, dass ihre Schüler nicht zur Schule kommen, sondern ihre Zeit mit Fußball verschwenden. Sollte sie jemanden auf frischer Tat ertappen, würde sie ihn von der Schule verweisen. Dragoslav braucht für seine Abwesenheiten in der Schule endlich eine gute Erklärung.
Die Lösung ist ein alter Stempel. Jelena findet ihn eines Tages in der Klinik, in der sie ein Praktikum absolviert, bevor sie nachmittags in die Schule geht. Der Stempel gehört einer inzwischen längst verstorbenen Ärztin. Sie füllt gleich einen ganzen Block mit Attesten für Dragoslav aus, die sie unterschreibt und stempelt. Damit kann sich Dragoslav in der Schule offiziell als krank entschuldigen. Ein hohes Risiko für Jelena, die bei Auffliegen des Schwindels für diese Urkundenfälschung von der Schule verwiesen worden wäre. Ihren Traum, Ärztin zu werden, hätte sie dann aufgeben müssen.
In Ermangelung eines besseren Planes drückt Dragoslav weiterhin die Schulbank. Er will so schnell wie möglich seinen Abschluss machen, um endlich nur noch Fußball spielen zu können. Die Prüfungen besteht er zur Überraschung seiner Lehrer mit Bravour. Seine Arbeit zum Thema „Heiztechnik“ schreibt er jedoch nicht selbst. Dies erledigt ein Fan des OFK Belgrad (Omladinski Fudbalski Klub, zu Deutsch: Jugend-Fußballklub), einem der großen Fußballvereine der Stadt, der zugleich Heizungsingenieur ist. So ist denn Dragoslav ausgebildeter „Sanitarni tehnicar“ (Sanitärtechniker) geworden, Spezialgebiet Umweltbelastungen hinsichtlich Wasserverschmutzungen. „Und so nannte man uns damals auch Gesundheitspolizei“, erinnert er sich.
Das Ende der Schulzeit kommt für Dragoslav dann trotzdem etwas plötzlich. Ihm stellt sich die Frage, wie es weitergehen soll. Eine Lehre, der Wunsch seines Vaters, kam für ihn nicht in Frage. Er steht vor der bislang größten Herausforderung seines Lebens: Wie kann er Fußballprofi werden?
Endlich Fußballer
Belgrad ist Fußball, und Fußball ist Belgrad. Trotz des Desinteresses der politischen Führung. Drei große Vereine hat die Stadt: Roter Stern, Partizan und OFK. Roter Stern ist der erfolgreichste der drei Vereine, in Sachen Popularität dicht gefolgt von Partizan. Beide Klubs befinden sich in einem dauerhaften Konkurrenzkampf, dem „večiti derbi“ (ewiges Derby), immer unterstützt von einer leidenschaftlichen Fangemeinde. Der OFK steht im Schatten von Roter Stern und Partizan, trotz seiner großen Erfolge in den 1950er und 1960er Jahren.
Dragoslav ist Fan von Partizan Belgrad, solange er denken kann. Obwohl er schon von Kindesbeinen an dem Leder hinterherjagt, bekommt er erst im Alter von 17 Jahren die Chance, ein Spiel im Stadion zu sehen. März 1966: Partizan steht im Rückspiel des Viertelfinals im Europapokal der Landesmeister gegen Sparta Prag. Das Hinspiel hatten die Jugoslawen mit 1:4 verloren. Jetzt muss ein Wunder her, um das Halbfinale noch zu erreichen.
Das Spiel ist an einem Nachmittag; statt wie sonst 100.000 Zuschauer sind diesmal nur 45.000 Menschen im Stadion von Partizan. Für Dragoslav ist das günstig: Er kann den Stadionbesuch seinen Eltern verschweigen und ein Treffen mit Freunden vorschieben.
Dem Spiel war ein einschneidendes Ereignis vorausgegangen: Eine Woche zuvor hatte er den Schritt gewagt und sich in der Jugendabteilung von Partizan Belgrad angemeldet. Die drei Tage Probetraining endeten damit, dass man Dragoslav wieder nach Hause schickte. Befund: zu wenig Talent. Der Junge ist sehr enttäuscht, dies beflügelt aber umso mehr seinen Ehrgeiz.
Einen Vorteil jedoch hatte das Training: Alle Jugendspieler von Partizan erhielten Freikarten für das große Spiel. Dragoslav hat zwar kein Anrecht mehr auf eine Karte, doch ein Ordner, der ihn beim Probetraining gesehen hat, hält ihn für einen Stammspieler der Mannschaft – und lässt ihn ins Stadion.
Die Partie gegen Sparta Prag verläuft furios: Partizan wirbelt derart durch die Reihen der Prager, dass sie am Ende mit 5:0 gewinnen. Im Halbfinale schaltet Partizan dann Manchester United aus, unterliegt aber im Endspiel im Brüsseler Heysel-Stadion den „Königlichen“ von Real Madrid mit 1:2. Der junge Dragoslav ist von dem Spiel wie berauscht. Und obwohl Partizan „sein“ Verein ist, bleibt es sein Traum, einmal im Stadion von Roter Stern zu spielen. Der alte Schaffner und seine Worte kommen ihm wieder in den Sinn: „Wenn du da mal spielst, dann hast du es geschafft.“
Fußball im Verein – für Dragoslav ist das wie Weihnachten. Das Kicken im Hinterhof ist eine Sache, bei einem Verein organisiert Fußball zu spielen eine andere. Doch damit wächst auch die Gefahr, von den Eltern entdeckt werden. Das bedeutet Stress. Also fasst Dragoslav einen Entschluss. Er ist nicht länger bereit, sich zu verstecken. Er riskiert es, er will es so sehr.
Zivomir Stepanović holt aus. Dragoslav ist darauf vorbereitet, er weicht flink aus und packt seinen Vater am Kragen. Er ist 17 Jahre alt, rund 182 cm groß und ein Athlet. Sekunden vorher hat er seinem Vater mitgeteilt, dass er in einem Fußballverein spiele und Profi werden wolle. Er hat ihm auch gesagt, dass sein Vater ihn nie mehr schlagen solle.
Dragoslav lässt keinen Zweifel aufkommen, dass es ihm ernst ist. Fest gepackt hält er seinen Vater am Kragen und mit seinen langen Armen auf Distanz. Die Schläge des Vaters können ihn nicht mehr treffen, sie gehen ins Leere. Dragoslav hält seinen Vater nur auf Distanz, schlägt nicht zurück. Plötzlich hört Zivomir Stepanović auf. Schweigend verlässt er den Raum.
Danach sollte er seine Hand gegenüber seinem Sohn nie wieder erheben. Nie wieder wurde darüber gesprochen.
Der Aufstieg
Partizan ist der Verein seines Herzens, bei Roter Stern will er einmal spielen. Im Winter 1965 aber nimmt Dragoslav auf Einladung eines Freundes an einem Probetraining bei der Jugendmannschaft des OFK Belgrad teil.
Belgrader Winter sind kalt, vor allem in diesem Jahr. Der Schnee türmt sich auf dem Platz. Die Nachwuchsfußballer spielen dennoch standesgemäß in kurzen Hosen und dünnen Trikots. Die Kälte zieht allen durch die Glieder, auch Dragoslav zittert bereits während des Spiels am ganzen Körper. Nur die Aussicht auf eine heiße Dusche nach dem Training lässt ihn durchhalten. Endlich! Es ist vorbei, Dragoslav eilt in die Kabine. Da packt ihn jemand von hinten am Ärmel.
„Heute ist kein Duschen“, sagt der Zeugwart. „Wir haben heute nur kaltes Wasser. Der OFK hat die Gasrechnung nicht bezahlt.“
„So ein berühmter Klub und nicht mal heißes Wasser. Das kann doch nicht wahr sein“, denkt Dragoslav und bittet mit einem Grinsen den verdutzten Platzwart, den Zugang zu den Duschräumen zu öffnen.
Nach der Winterpause wird das Buhlen um ihn heftiger. Der OFK bittet ihn mehrfach, wieder zum Training zu kommen. Bald ist Dragoslav offiziell Spieler der OFK-Jugend.
Bei seinem ersten Training fragt ihn sein Trainer, wie er heiße.
„Dragoslav“, antwortete dieser.
„Nein, nein, nein. Ich meine deinen Spitznamen. Dragoslav ist zu lang. Auf dem Platz brauche ich was Kürzeres. Dragi vielleicht?“
„Nein, bitte nicht. Nennen Sie mich lieber Stepa.“
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