Das heißt nicht, dass die Schöpfungsordnung für sich allein stehen darf. Ihre einseitige Betonung führt – gerade unter Christen, die sich an biblischen Maßstäben orientieren – manchmal zu seltsamen Auswüchsen. Die Gefahr liegt darin, dass man sich allzu leicht mit suboptimalen Beziehungen zufriedengibt, solange die korrekte Form bewahrt wird. Stellen wir uns Jens und Claudia vor. Sie sind in derselben Gemeinde aufgewachsen und seit 10 Jahren miteinander verheiratet. Von Anfang an haben sie die sexualethischen Vorstellungen der Gemeinde erfüllt. Bei ihnen scheint auch alles in Ordnung zu sein, aber wie es in ihrer Beziehung aussieht, ob sie von Liebe und – wenigstens gelegentlich – von Leidenschaft geprägt ist, weiß keiner. Nach außen gut, alles gut, scheint die Devise zu sein.
Abb. 3: Die Bedeutung des Liebesgebots
Die Bewahrung einer äußeren Form ist jedoch aus einer christlichen sexualethischen Sicht zu wenig. Die sexuelle Beziehung muss von Liebe geprägt sein. Denn ohne Liebe kann Sex zu einem Albtraum werden. Wenn die Partner egoistisch handeln und lediglich auf die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse schauen, wird Sex zum Machtinstrument. Bei Männern dient er bald zur Unterdrückung der Frau, wie dies nach dem Sündenfall angekündigt wurde und seither überall auf der Welt geschieht: »Nach deinem Mann wird dein Verlangen sein, er aber wird über dich herrschen« (1Mo 3,16 ELB). Gemeint ist hier nicht das biblische Prinzip, dass der Mann in der Ehe eine Leitungsrolle übernehmen soll, sondern hier geht es um Machtausübung, sogar um physische und psychische Gewaltanwendung. Auch das kommt in christlichen Ehen vor: grobe Handlungen, die der Frau wehtun; Druck, bestimmte Handlungen durchzuführen, die der Mann in einem Porno gesehen hat; demütigende Vergleiche mit anderen Frauen.
Aber auch Frauen setzen Sex als Machtinstrument ein, wenn auch meistens auf subtilere Art und Weise. Frauen wissen instinktiv, dass es Männern in der Regel existenziell wichtiger ist, dass die sexuelle Beziehung rundläuft. Tendenziell hängt das Selbstbewusstsein des Mannes stärker von der momentanen Einschätzung der Qualität der sexuellen Beziehung ab als bei der Frau, und manche Frauen nützen diese Tatsache zu ihrem Vorteil. Sex wird als Belohnung für Verhalten, das ihren Wünschen entspricht, in Aussicht gestellt. Wenn der Mann brav ist, bekommt er Sex; wenn nicht, dann eben nicht.
Solche Verhaltensmuster sind auf Dauer Sexkiller. In vielen Ehen, von denen man meint, dass alles in Ordnung sei, läuft nichts. Die sexuelle Beziehung wird über weite Strecken vernachlässigt bzw. überhaupt nicht weitergeführt. Nun hat sexuelle Dysfunktion verschiedene Ursachen, aber nur in seltenen Fällen sind diese rein physischer Natur. Oft ist sie bedingt durch die Lebensphase, in der man sich gerade befindet (Kleinkinder zu Hause, beruflicher Stress, Einsetzung der Menopause). Aber in vielen Fällen stecken Verletzungen dahinter, die sich über Jahre hinweg durch liebloses Sexualverhalten angestaut haben. Das Liebesgebot lässt nicht zu, dass dieser Zustand einfach geduldet wird.
Es ist auch wichtig einzusehen, dass Gott selbst das Liebesgebot einhält. Wenn er Richtlinien für unser Sexualverhalten aufstellt, dann nicht, um uns einzuhämmern, dass er das Sagen hat und wir gefälligst zu gehorchen haben, sondern gerade weil er uns liebt. Er hat uns geschaffen und weiß daher, was für uns gut ist und was uns schadet. Er will nur das Beste für uns. Seine Prinzipien und seine Gebote, gerade in sexualethischer Hinsicht, spiegeln genau sein Bestreben danach wider. Das wird hoffentlich im Laufe des Buches klar.
Doch auch das Liebesgebot kann allein keine biblische Sexualethik ausreichend begründen, auch wenn viele genau das behaupten, unter anderen die Evangelische Kirche in Deutschland. In ihrem 2013 veröffentlichten »Familienpaper« leugnet sie das Konzept einer Schöpfungsordnung und erhöht die Liebe zu einem hinreichenden Kriterium, mit dem sich alle möglichen sexuellen Beziehungen rechtfertigen lassen. 3Es klingt zwar schön, wenn die Beatles singen: »All you need is love«, aber die Opfer dieser Devise wissen, dass jeder Betrug, jede Scheidung, jeder Partnerwechsel mit der Liebe – oder dem Mangel an Liebe – gerechtfertigt wird.
Abb. 4: Die Bedeutung der Ewigkeitsperspektive
Auch die Ewigkeitsperspektive darf nicht ausgeblendet werden. Geschieht dies, kommt es allzu leicht zu einer Überbewertung von Sex. Man erkennt dies in unserer Kultur: An die Ewigkeit denken die Menschen selten, an Sex dauernd. Guter Sex wird für den Schlüssel zum Glück schlechthin gehalten, und wenn die sexuelle Beziehung nicht klappt (oder man, Gott behüte, gar ohne sie leben sollte!), dann scheint für viele das Leben dahin zu sein. Ungeduld mit dem Partner ist vorprogrammiert, wenn Sex diese überbetonte Rolle einnimmt. Viele Beziehungen brechen unter dieser Last zusammen. Die Ewigkeitsperspektive relativiert den Wert des Sex in gesundem Maß. Sie erinnert uns daran, dass Sex keine notwendige Voraussetzung für ein erfülltes Leben ist; in der Ewigkeit kommt man ohne ihn bestens aus! Und selbst im Hier und Jetzt kann man auch ohne Sex gut und glücklich leben.
Die Ewigkeitsperspektive kann jedoch genauso wenig wie die anderen Grundsätze für sich alleine stehen. Wenn nur sie angewandt wird, verliert man leicht aus den Augen, dass der Schöpfer die geschlechtliche Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau gutheißt. In früheren Epochen der Kirchengeschichte führte diese einseitige Ausrichtung auf die Ewigkeit, wie wir gleich sehen werden, zu einer körperfeindlichen Haltung und einer Überbewertung des Zölibats als heiligerem Lebensentwurf.
Also müssen alle drei Grundsätze – die Schöpfungsordnung, das Liebesgebot und die Ewigkeitsperspektive – herangezogen werden, um den Umriss einer biblisch basierten christlichen Sexualethik zu erstellen. Dieser Aufgabe widmen wir uns im Folgenden. Aber zuerst müssen wir uns kurz darüber Gedanken machen, wie man biblische Texte auslegt. Erfolgt das nach eigenem Ermessen oder gibt es Prinzipien, die beachtet werden müssen, wenn wir Bibelstellen – in unserem Fall diejenigen, die normative Aussagen über Sexualität machen – auslegen?
3. Bibelauslegung: mehr als subjektive Meinungsbildung?
Jeder Christ, der einer Gemeinde angehört, die die Bibel als höchste Autorität und normierende Instanz im Leben der Gläubigen ernst nimmt, kennt sie: die Bibelstunde. Man kommt zusammen, liest biblische Texte miteinander und versucht sie auszulegen, sodass sie für die Teilnehmer im Alltag brauchbar sind. Dagegen ist an sich nichts einzuwenden. Hier kommen einige der wichtigsten Prinzipien der Reformation zum Ausdruck: die Autorität und Klarheit der Schrift sowie die Priesterschaft aller Gläubigen. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) sind diese Prinzipien auch für viele römisch-katholische Gläubige keine fremden Ideen mehr, auch wenn sie diese unter anderen Begriffen kennen, die einen weniger protestantischen Klang haben. 4
Aber was macht man in der durchschnittlichen Bibelstunde, wenn etwas unklar erscheint? Meiner Erfahrung nach werden die verschiedenen Bibelübersetzungen, die die Teilnehmer jeweils vorziehen, miteinander verglichen, und Konsens wird darüber erzielt, welche ihnen am meisten zusagt. Oder der »Kluge«, den es scheinbar in jedem Bibelkreis gibt, denkt sich eine plausible Deutung aus, die die anderen – mal mehr, mal weniger – überzeugt. Ich will solche Meinungsbildungsprozesse gar nicht in Abrede stellen, solange man erkennt, dass dies der Anfang der Auslegung ist, aber nicht deren Ende.
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