Im Übrigen lässt das Neue Testament diese Option nicht zu. In fast jedem Brief, der an eine heidenchristliche Leserschaft gerichtet ist, werden sexualethische Themen angesprochen (Röm 1,24-27; 1Kor 5,1-2; 6,12-20; 1Kor 7; Gal 5,16.19; Eph 5,3; Kol 3,5; 1Thess 4,1-8; 1Petr 2,11; 2Petr 2,18; Judas 7). Die Apostel Paulus und Petrus sowie Judas, der Bruder Jesu, die diese Briefe geschrieben haben, sagen nicht etwa: »Überlasst es dem Einzelnen, wie er sein Leben in sexueller Hinsicht gestalten möchte, solange er das Liebesgebot beachtet«, sondern vielmehr: »Strebt in euren Gemeinschaften nach sexueller Reinheit. Bringt euren Mitgliedern die Maßstäbe Gottes bei und fordert von ihnen ihre Einhaltung.«
Ein Hauptanliegen dieses Buches ist es, dass christliche Kirchen und Gemeinden vor einer klaren Sprache über biblische Standards keine Angst haben müssen. Eine christliche Sexualethik, die danach ausgerichtet ist, muss uns nicht peinlich berühren; im Gegenteil: Sie kann auch begeistern – gerade in unserer Zeit, die für viele orientierungs- und haltlos geworden ist. Eine biblisch begründete Sexualethik ist keine schlechte Nachricht darüber, was Gott uns alles vorenthalten will, sondern eine gute Nachricht darüber, wie schön das Leben sein kann, wenn man Gottes Design für das intime Miteinandersein entdeckt. Ich wünsche mir Gemeinden, die voller Zuversicht und Freude Gottes Plan für menschliche Sexualität verkünden und vorleben.
Es geht dabei nicht um Sehnsucht nach den »guten alten Zeiten«, als alles in der Welt – jedenfalls in sexueller Hinsicht – in Ordnung war. Solche Zeiten gab es nicht. Die bürgerliche Sexualethik vor der Sexuellen Revolution ist nicht mit einer biblischen Sexualethik gleichzusetzen. Manches, was vorher war, war gewiss nicht gut; manches war besser. Wie zu allen Zeiten. Wir jagen hier keiner Fata Morgana nach, sondern wir wollen herausfinden, was die Bibel in Bezug auf Sexualverhalten gebietet bzw. verbietet und was die Gründe dafür sind, und in weiterer Folge erste Überlegungen anstellen, wie sich dies am besten in unserer Zeit anwenden lässt.
2. Die Grundsätze einer christlichen Sexualethik
Wenn Christen also eine Sexualethik brauchen, wie gelingt es, diese anhand der Bibel herauszuarbeiten? Man kann nicht ohne Weiteres jeden einzelnen Bibeltext eins zu eins in die Gegenwart übertragen. Auch wenn dies der Karikatur bibeltreuer Gemeinden im Umgang mit der Bibel entspricht, sieht eine verantwortliche Hermeneutik, also eine »Lehre zur Auslegung von Texten« (vgl. Duden), anders aus. Denn erstens beschreibt die Bibel, insbesondere das Alte Testament, vieles, was sie nicht bejaht, beispielsweise die Polygamie. Diese Ehe mit mehreren Frauen gleichzeitig gab es häufig im alten Israel, und sie wurde im Gesetz nicht verboten, sondern bloß geregelt. Dennoch macht die Art und Weise, wie über polygame Beziehungen berichtet wird, klar: Sie waren immer mit negativen Konsequenzen für die Beteiligten verbunden.
Zweitens sind die kulturellen Gegebenheiten manchmal so anders, dass eine direkte Übertragung eines Bibeltextes in unsere Zeit nicht möglich ist. Es geht in diesen Fällen darum, dem Text die Prinzipien, die in der ursprünglichen Situation zur Anwendung kamen, zu entnehmen und diese in unserer Zeit geltend zu machen. Diese »Kontextualisierung« ist die unumgängliche Aufgabe eines jeden Auslegers, insofern er sich nicht nur mit historischen Fragen auseinandersetzen will.
All das erfordert ein Feingefühl im Umgang mit biblischen Texten, das erlernt werden will. Man muss sich fragen, nach welchen Prinzipien man bestimmte Aussagen zum Sexualverhalten in der Bibel für normativ erklärt und andere nicht, etwa weil sie kulturgebunden oder nur auf eine bestimmte Epoche im Heilsplan Gottes begrenzt sind. Im letzteren Fall gelten sie dann nur für Israel, aber nicht für die Kirche. Beispielsweise ist im mosaischen Gesetz der Geschlechtsverkehr einerseits mit einem gleichgeschlechtlichen Partner und andererseits mit einer menstruierenden Frau nachdrücklich untersagt. Sind das allgemeingültige Regeln oder kulturbedingte Aussagen, die in unserer Zeit revidiert werden dürfen oder sogar müssen? Wie begründen wir solche Entscheidungen?
Ethiker suchen nach Grundsätzen, die die einzelnen Verhaltensnormen untermauern. Man will ja nicht nur wissen, was die Bibel von uns verlangt, sondern auch warum. (Übrigens fördert die Bibel selbst diese Haltung – man beachte nur, wie sehr Paulus bemüht ist, seine Forderungen zu begründen, und wie oft er um Einsicht und Erkenntnis seitens seiner Leser betet.) Aus der Bibel lassen sich drei Grundsätze ableiten, mit denen man allgemeingültige Prinzipien in Bezug auf menschliches Sexualverhalten begründen kann: die Schöpfungsordnung, das Liebesgebot und die Ewigkeitsperspektive. Sie gleichen den drei Beinen eines Hockers, und wie bei einem Hocker sind alle drei gleichermaßen notwendig, um eine stabile Sitzfläche zu gewährleisten. Das sieht bildhaft so aus:
Abb. 1: Die drei Grundsätze der biblischen Sexualethik
Unter Schöpfungsordnung versteht man die ethischen Vorgaben, die von Gott in der Schöpfung angelegt sind. Das heißt, sie gelten für alle Menschen zu allen Zeiten, weil sie dem Grundmuster für das menschliche Miteinander entsprechen, wie Gott es am Anfang verordnet hat. Für Jesus war dies ein wichtiges Kriterium bei der Frage, welche sexualethischen Verhaltensnormen gelten sollen. Das geht aus seiner Auseinandersetzung mit den Pharisäern in der Frage nach Scheidung und Wiederheirat hervor. Dort legt er den Maßstab »Wie es am Anfang war« an, den er der Schöpfungsgeschichte entnahm (Mt 19,8). Davon leitet er Normen ab, die das Verhalten der Juden im 1. Jahrhundert regeln sollten, auch wenn diese mit Aussagen im mosaischen Gesetz in Konflikt geraten.
Mit dem Liebesgebot ist das mehrfach im Neuen Testament zitierte Gebot aus 3Mo 19,18 – »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« – gemeint. Sowohl Jesus (Mt 22,39 par) als auch Paulus (Röm 13,9; Gal 5,14) und Jakobus (Jak 2,8) betrachten dieses Gebot als Inbegriff dessen, worauf das moralische Gesetz zielt, und halten es für die wichtigste Norm im menschlichen Miteinander. Alle ethischen Forderungen müssen sich daran messen, wenn sie in vollem Umfang als christlich gelten sollen.
Schließlich muss man die Ewigkeitsperspektive der Schrift in sexualethischen Überlegungen miteinbeziehen. Gemeint ist die Ausrichtung der Bibel auf eine Zukunft in der Ewigkeit mit Gott, die bedingt, wie man im Jetzt lebt. In der Ewigkeit bleibt nicht alles, wie es bisher war. Jesus macht z.B. deutlich, dass es dann keine Ehe mehr geben wird (Mt 22,30; siehe dazu Abschnitt VI.1). Das heißt, auch wenn davon auszugehen ist, dass die sexuelle Unterscheidung zwischen Mann und Frau erhalten bleibt (weil sie für die Erschaffung des Menschen nach dem Ebenbild Gottes grundlegend ist; siehe dazu Abschnitt II.1), verändert sich das Sexualverhalten völlig. Diese Perspektive soll laut dem Apostel Paulus unsere Einstellung dazu im jetzigen Zeitalter beeinflussen (vgl. 1Kor 7,29-31).
Wichtig ist, dass man alle drei Grundsätze – um im Bild zu bleiben, alle drei Beine des Hockers – beachten muss. Vernachlässigt man einen davon, kommt es zu Verwirrungen im Denken und im Verhalten. Sehen wir uns das genauer an:
Abb. 2: Die Bedeutung der Schöpfungsordnung
Wenn die Schöpfungsordnung nicht oder zu wenig berücksichtigt wird, wird Sex bedeutungslos. Das »wozu« fehlt, denn die Schöpfungsgeschichte will uns, wie wir im Folgenden sehen werden, darin unterweisen, was Gott sich bei der Erschaffung der menschlichen Sexualität gedacht hat und welchem Zweck sie dient. Fragt man in christlichen Gemeinden danach, stellt man fest, wie selten die Frage nach der Bedeutung der menschlichen Sexualität gestellt wird. Ganz gleich, ob die Leiter oder die Mitglieder einer Gemeinde gefragt werden: Die meisten haben niemals darüber nachgedacht und wüssten auch nicht, wie sie es angehen sollten, die Frage zu beantworten. Dabei ist es aus biblischer Perspektive klar: Man konsultiert die Schöpfungsgeschichte bzw. spätere Stellungnahmen dazu in der Heiligen Schrift.
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