»Wie geht es dir?«
»Verzeih mir«, sagte sie, ehe der Schmerz mit noch größerer Kraft wieder über sie hereinbrach und alle weitere Konversation unmöglich machte. Sie drückte seine Hand, so fest sie konnte. Jetzt sterbe ich, dachte sie. Ich sterbe.
»Jetzt bist du ganz offen«, sagte die Hebamme. »Du musst jetzt hecheln, hecheln – du darfst noch nicht pressen.«
Emma hechelte wie ein durstiger Hund. Die Presswehen zerrissen sie, wollten sie mit sich ziehen. Sie musste sich bis zum Äußersten anstrengen, um nicht nachzugeben.
»Du darfst nicht pressen«, mahnte die Hebamme.
In ihrem Nebel bemerkte sie, wie die Entbindungsärztin kam und mit der Hebamme irgendwo zwischen ihren weit gespreizten Beinen saß. Ein Laken wurde über sie gelegt. Und dabei hatte sie vorgehabt, im Stehen oder wenigstens im Hocken zu gebären. Was für eine Blamage. Die Kraft in ihren Beinen war gleich null.
Ab und zu nahm sie wahr, dass Johan neben ihr saß, dass seine Hand ihre hielt.
Sie verlor ihr Gefühl für Zeit und Raum, sie hörte ihr eigenes hysterisches Keuchen – nur das konnte sie am Zerreißen hindern. Plötzlich schien alles zu explodieren. Vage registrierte sie, dass sie sich besudelt hatte, aber das interessierte sie nicht im Geringsten. Jetzt ging es um Leben und Tod.
»Nicht pressen, nicht pressen!«
Die stetige Mahnung der Hebamme hallte in ihren Ohren wider.
Plötzlich hörte Emma eine neue Stimme. Eine weitere Hebamme hatte den Raum betreten. Sie erkannte deren dänisch gefärbte Sprache von ihren früheren Entbindungen.
»Jetzt machen wir das so.«
Emma war es jetzt egal, was um sie herum geschah, sie war in ein Vakuum geglitten, in dem sie keinen Schmerz mehr verspürte. Besser, sie starb hier und jetzt. Diese Vorstellung kam ihr vor wie eine Befreiung.
Wir sind dem Tod nie so nah wie dann, wenn wir Leben geben, dachte sie.
Die Nacht brachte eine seltene Wärme. Die Luft war drückend, und in dem über einhundert Jahre alten Haus bewegte sich so gut wie kein Luftzug. Die Jugendherberge Warfsholm erinnerte an eine Kaufmannsvilla aus dem neunzehnten Jahrhundert und war anfangs als Badehaus gebaut worden. Sie lag isoliert am Wasser und gehörte zu dem an die hundert Meter weiter auf der Landzunge gelegenen Hauptgebäude mit Pension und Speisesaal.
Vor der Jugendherberge befanden sich ein gepflegter Rasen mit einigen Gartenmöbeln, ein kleiner Parkplatz und ein Gelände mit fast zwei Meter hohen Wacholderbüschen, die wie ein Labyrinth bis zum Ufer wuchsen, wo Wasser und Schilf die Herrschaft an sich rissen. Dahinter verband ein zweihundertfünfzig Meter langer Steg Wasser und Hafen mit der Straße zum nächsten Ort, Klintehamn.
Um diese Tageszeit war hier alles still und ruhig.
Die Gäste hatten lange draußen gesessen und den warmen Abend genossen, jetzt aber waren alle zu Bett gegangen. Draußen am Haus brannten die Lampen. Nicht, dass das nötig gewesen wäre – die Nächte um diese Jahreszeit waren hell, ganz dunkel wurde es nicht.
Der Gang im unteren Geschoss war leer. Die Zimmertüren waren mit hübsch gemalten Schildern verziert: »Grötlingbo«, »Hablingbo«, »Havdhem« – das waren die Namen gotländischer Gemeinden. Die Türen waren geschlossen, und nicht ein Laut durchdrang die massiven Wände.
Martina Flochten schwitzte in ihrem Bett. Sie trug nur ihre Unterhose, hatte die Decke aus dem Bezug entfernt und das Fenster sperrangelweit aufgerissen, aber das war keine große Hilfe. Eva schien auf der anderen Seite des schmalen Zimmers tief zu schlafen.
Irgendetwas hatte Martina geweckt. Vielleicht war es die Hitze gewesen. Sie lag ganz still da und lauschte den regelmäßigen Atemzügen ihrer Zimmergenossin. Sie hatte Durst und musste auf die Toilette, und am Ende gab sie die Hoffnung auf, noch einmal einschlafen zu können. Seufzend stand sie auf, streifte sich ein T-Shirt über und schaute aus dem Fenster. Das Laub der Bäume, die Rasenfläche und das Schilf weiter hinten am Ufer waren in dunklen Dunst gehüllt. Die Sonne ruhte hinter dem Horizont, aber das Licht wollte sich noch nicht geschlagen geben.
Alles war still, um diese Zeit waren nicht einmal Seevögel zu hören. Ein Blick auf die digitale Uhr auf dem Tisch zeigte zehn Minuten vor zwei.
Sie ging zu der in der Mitte des Ganges gelegenen Toilette und stapfte dann die schmale Wendeltreppe zur Küche hoch, goss sich ein Glas Wasser ein, öffnete den Kühlschrank, nahm einige Eiswürfel heraus und ließ sie mit zufriedenem Platschen ins Glas fallen. Sie kippte alle Fenster, um die warme Nachtluft hereinzulassen. Sie konnte sich nur schwer vorstellen, dass sie sich an dermaßen nördlichen Breitengraden aufhielt.
Mit dem Wasserglas in der Hand und einer Zigarette, die sie aus einer Packung auf der Küchenbank stibitzt hatte, ging sie hinaus und setzte sich auf die knackende Holztreppe.
Das wild wuchernde, üppige sommerliche Grün war im Nachtlicht besonders schön. Martina hatte Gotland wirklich lieb gewonnen.
Ihre Mutter hatte die Insel mit achtzehn Jahren verlassen, um als Kindermädchen bei einer Rotterdamer Familie zu arbeiten. Sie hatte ein Jahr in den Niederlanden bleiben wollen, doch dann hatte sie Martinas Vater getroffen, der damals Architektur studierte. Sie heirateten, und dann wurden bald Martina und ihr Bruder geboren.
Die Familie kam jedes Jahr in den Ferien her und wohnte bei den Großeltern in Hemse oder in einem Hotel in der Stadt. Die Großeltern waren jetzt schon lange tot, und die Mutter war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als Martina achtzehn gewesen war. Die restliche Familie fuhr noch immer jedes Jahr nach Gotland.
Und jetzt war Martina so verliebt wie nie zuvor in ihrem Leben. Vor einem Monat hatte sie noch nichts von seiner Existenz gewusst, und jetzt kam er ihr vor wie die Luft, die sie zum Atmen brauchte.
Ein kaum hörbares Rascheln im Wäldchen neben der Jugendherberge riss sie aus ihren Gedanken. Sie ließ die Hand mit der Zigarette sinken und schaute hinüber. Jetzt war wieder alles still. Wahrscheinlich ein Igel, dachte sie, die kamen nachts immer zum Vorschein. Dann hörte sie plötzlich einen Zweig brechen. War dort jemand? Ihr Blick wanderte über die Rasenfläche vor dem Haus, den Tisch mit den Bänken, die Spielgeräte, die Wäscheleine mit einem einsamen blau-weiß gestreiften Badetuch, die Wacholderbüsche, die wie einsame Soldaten in Hab-Acht-Stellung standen. Plötzlich kamen ihr die Stille und das Schweigen bedrohlich vor.
Sie drückte die Zigarette aus, blieb eine Weile sitzen und lauschte, aber nun war wieder alles still. Vielleicht hatte sie sich alles nur eingebildet, sie war an diese hellen, verzauberten Nächte nicht gewöhnt. Und auch nicht an das Alleinsein. Unsinn, dachte sie. Ich bin in Schweden sicher, hier gibt es keinen Grund, sich zu fürchten.
Sie drückte auf die Klinke, und die schwere Tür öffnete sich ächzend.
Es raschelte noch einmal, aber Martina gab sich nicht die Mühe, die Ursache dieses Geräusches festzustellen.
Das Morgenlicht drang durch die dünnen Vorhänge. Alles war still. Johan saß vor dem Fenster in seinem Sessel und hielt seine neugeborene Tochter im Arm. Sie lag wie ein Bündel in ihrer weichen Baumwolldecke. Ihr Gesicht war klein und rot gefleckt, ihre Augen geschlossen, der Mund ein wenig offen.
Er fand, sie atmete so schnell – ihr Herz tickte in ihrem Brustkorb wie das eines Vogeljungen. Er bewegte sich nicht und spürte Wärme und Gewicht ihres Körpers, konnte sich an ihr nicht satt sehen.
Johan wusste nicht, wie lange er schon so dasaß und sie anstarrte. Seine Beine waren schon längst eingeschlafen. Es war unbegreiflich, dass das Menschlein in seinen Armen seine Tochter sein sollte. Die ihn einmal Papa nennen würde.
Emma lag auf der Seite im Bett und schlief, ihr Gesicht war glatt und friedlich. Noch vor wenigen Stunden hatte sie so viel Schmerz durchleiden müssen. Er hatte nach besten Kräften versucht, ihr zu helfen. Er hätte sich niemals vorstellen können, wie dramatisch eine Geburt verlaufen konnte. Als er Emmas Hand gehalten hatte, während die Hebamme Anweisungen erteilte und Emma durch die Niederkunft lotste, war ihm aufgegangen, wie groß dieses Ereignis doch war. Emma schenkte mit ihrem Körper Leben, brachte einen anderen Menschen zur Welt, der den Kreislauf fortsetzen würde. So war die Ordnung der Natur. So nah am Leben hatte er sich noch nie gefühlt. Und dennoch war es auch ein Kampf auf Leben und Tod.
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