1 ...8 9 10 12 13 14 ...56 „Hier“, sagte Matty. „Du kannst das Bürsten übernehmen, wenn du magst. Dazu nimmst du die Kardätsche, und zwar in die Hand, die Solveigs Kopf am nächsten ist. Das ist in diesem Fall die rechte Hand, weil du links vom Pferdekopf stehst. Und bürste nicht gegen den Strich! Geh dabei vor und wieder zurück – so, ich zeig’s dir.“ Ich paßte genau auf, wie er es machte, und versuchte es dann selbst. „Aber sei vorsichtig, Solveig ist kitzlig hinter den Ohren!“ warnte Matty.
Anfangs stellte ich mich recht ungeschickt an, und die Stute zuckte nervös mit den Ohren, doch mit der Zeit ging es besser. Ich half Matty noch bei sechs anderen Pferden, und plötzlich war es stockdunkel hinter den Stallfenstern, und ich war so müde wie noch nie in meinem Leben. Meine Arme schmerzten höllisch, und ich hätte mich am liebsten längelang in eine leere Box ins Stroh gelegt und mich keinen Zentimeter mehr von der Stelle gerührt. Ich bewunderte Jörn und Matty, die noch ganz frisch wirkten und denen es nichts auszumachen schien, daß die Pferde jetzt auch noch gefüttert werden mußten.
„Ich muß nach Hause!“ sagte ich und lehnte mich gegen die Stallmauer.
„Herrje, du bist ja völlig fertig!“ Jörn sah mir ins Gesicht. „Wir hätten nicht zulassen sollen, daß sie so lange mithilft, Matty.“
„Unsinn“, sagte ich. „Ich bin schließlich kein kleines Kind und kann selbst auf mich aufpassen. Habt ihr eine Taschenlampe für mich?“
Matty wollte etwas erwidern, doch Jörn kam ihm zuvor. „Ich bringe dich zum Kavaliershäusl“, sagte er.
„Du?“ fragte ich erstaunt, fügte dann aber rasch hinzu:
„Nicht nötig. Ich hab dir doch gerade gesagt, ich bin kein kleines Kind. Ich fürchte mich nicht im Dunkeln.“
Das stimmte überhaupt nicht. Der Gedanke, allein zu Tante Karens Haus gehen zu müssen, war alles andere als angenehm, doch das hätte ich gerade Jörn gegenüber um keinen Preis zugegeben.
Jörn sagte kein Wort. Er verschwand in der Sattelkammer und kam mit einer großen Taschenlampe, meinen Jeans und zwei Strickjacken zurück. In eine der Jacken schlüpfte er selbst, die andere gab er mir zusammen mit den Jeans und sagte: „Die Stiefel und die Latzhose kannst du morgen zurückbringen – es sei denn, du magst uns mal wieder helfen.“ Und in Mattys Richtung fügte er hinzu: „Ich bin gleich wieder zurück. Der neue Sack mit den Mineralien ist noch im Schuppen.“
Matty nickte. Sein Blick ging zwischen Jörn und mir hin und her. Ich sagte: „Gute Nacht, Matty.“
„Nacht, Nell“, erwiderte er. „Und danke, daß du uns geholfen hast. Hoffentlich war’s nicht zuviel für dich.“
„Ich werd’s überstehen“, sagte ich. Dann folgte ich Jörn aus dem Stall, und Sepp nickte mir im Vorbeigehen zu.
Eine bleiche Mondsichel stand über dem Wald, und vereinzelt schimmerten Sterne zwischen den kahlen Bäumen. Es roch nach Frühling. Irgendwo schrie ein Käuzchen.
Jörn und ich gingen schweigend nebeneinander her, zwischen den Koppelzäunen entlang. In den Haselnußbüschen raschelte es. Ich zuckte unwillkürlich zusammen.
„Eine unserer Katzen ist auf Mäusefang“, sagte Jörn beruhigend und ließ den Strahl seiner Taschenlampe über den Boden gleiten. Da huschte eine gefleckte Katze über den Weg. Als sie zu uns aufsah, leuchteten ihre grünen Augen wie Glasmurmeln.
„Das sind ungewohnte Geräusche für einen, der aus der Stadt kommt, nicht?“
Ich nickte, obwohl er es nicht sehen konnte. „Am meisten verunsichert einen die Stille. In der Stadt gibt’s ständig irgendwelchen Lärm, sogar nachts“, erwiderte ich.
„Ich weiß“, sagte Jörn. „Vor mehr als einem Jahr war ich mal für ein paar Wochen in München.“ Er schwieg eine Weile und fügte dann hinzu: „Ich habe meistens im Park geschlafen – im Englischen Garten. Dort war es zwar still, aber irgendwo im Hintergrund hörte man ständig das Brausen des Verkehrslärms.“
„Du hast im Park geschlafen?“ wiederholte ich überrascht.
„Ja. Weil ich kaum Geld hatte. Ich bin damals von zu Hause ausgerissen, wie man so schön sagt.“
Ich blieb stehen und sah Jörn an, doch in der Dunkelheit war sein Gesicht nur als schwacher Umriß zu erkennen. Der Strahl seiner Taschenlampe beleuchtete ein Stück des Weges. „Du bist ausgerissen?“
Er lachte leicht. „Hättest du mir das nicht zugetraut? Ich hatte eine Zeitlang ziemliche Schwierigkeiten mit meinem Vater, weißt du. Aber in der Stadt war’s noch schlimmer. Ich war fast krank vor Heimweh. Das Geld ging mir auch bald aus. Also bin ich schließlich reumütig wieder heimgekommen.“
Ich sagte spontan: „Ich würde auch am liebsten verschwinden. Aber ich bin zu feige. Ich weiß nicht, wohin ich gehen könnte.“
„Es ist verdammt schwierig“, gab Jörn zu. „Man gerät so leicht in irgend etwas hinein, was man eigentlich gar nicht will. Ich glaube, es ist am besten, zu Hause zu bleiben und da zu versuchen, etwas zu ändern – und wenn das nicht geht, auszuhalten und sich selbständig zu machen, sobald man mündig ist.“
„Bist du denn nicht schon achtzehn?“
„Ja, seit einem Monat. Aber ich möchte erst mal die Schule zu Ende machen. Und jetzt komme ich mit meinem Vater auch wieder einigermaßen klar. Er hat etwas dazugelernt – viel nicht, aber ein bißchen –, und ich gebe mir Mühe, ihn besser zu verstehen.“
Wir hatten die Gartenpforte von Tante Karens Haus erreicht. Herr Alois begann zu bellen, und eines der Küchenfenster tat sich auf. Mein Vater rief: „Bist du das, Elinor?“ Seine Stimme klang ängstlich.
Ich hätte mich gern noch eine Weile mit Jörn unterhalten, obwohl ich so müde war. Doch er sah kurz zum Haus hinüber und sagte dann: „Morgen ist Volksfest in Amsdorf. Willst du mitkommen?“
Einen Augenblick lang war ich zu überrascht, um etwas zu erwidern. Die Haustür öffnete sich, und mein Vater erschien auf der Schwelle. Herr Alois kam kläffend herausgeschossen.
„Gern“, sagte ich rasch. „Ich komme gern mit!“
„Gut. Dann treffen wir uns morgen um zehn an der Wegkreuzung – dort, wo eure Auffahrt anfängt. Servus, und schlaf gut.“
„Gute Nacht“, sagte ich atemlos.
Herr Alois bellte wie verrückt, doch als Jörn sich bückte und ihn streichelte, wurde er still und wedelte sogar mit dem Schwanz. Mein Vater wartete noch in der Haustür. Erst als Jörn sich abwandte und verschwand, ging ich mit dem Hund durch den Garten.
Im Lichtschimmer aus der offenen Küchentür sah ich, daß mein Vater blaß war. Zorn und Angst standen ihm ins Gesicht geschrieben. „Warum hast du nicht Bescheid gesagt?“ fragte er.
Ich ging an ihm vorbei in den kleinen Flur. Kirsty saß im Schaukelstuhl in der Küche und strickte. Sie sah nicht auf.
„Weil ich keine Lust hatte“, sagte ich und fühlte dabei etwas wie Triumph.
Mein Vater starrte mich an. „Du hattest keine Lust“, wiederholte er. „Was, zum Teufel . . .“ Er stockte und fügte beherrschter hinzu: „Was ist denn nur los mit dir, Elinor? So etwas hat es doch sonst nie zwischen uns gegeben. Du weißt, daß ich dir immer viel Freiheit gelassen habe. Ich habe dir keine Vorschriften gemacht. Aber ich konnte mich auch auf dich verlassen. Wenn du abends ausgegangen bist, hast du mir vorher jedesmal Bescheid gesagt. Du mußt doch wissen, daß ich mir Sorgen mache.“
„Nein“, sagte ich. „Das weiß ich nicht.“
Er sah mich fassungslos an. „Also, ich mache mir keine Sorgen, wie. Es ist mir ganz egal, was dir passiert! Na gut, wir können in Zukunft auch anders miteinander umgehen. Ich bin dein Vater, und solange du minderjährig bist, hast du dich nach dem zu richten, was ich sage!“
In diesem Augenblick haßte ich ihn. Aus der Küche kamen Geräusche. Kirsty war aufgestanden. Sie räusperte sich leise; es klang wie eine Warnung. Dann sagte sie mit ihrer sanften, ein wenig brüchigen Stimme: „Ich habe den Linseneintopf für dich warmgestellt, Elinor. Du bist sicher hungrig.“
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