Matty seufzte tief. „Die Welt wird immer schlechter!“
Ein paar Bauern in Trachtenanzügen kamen vorbei, ihre Sprößlinge an der Hand. Auf ihren Hüten nickten Gamsbärte wie überdimensionale Rasierpinsel. Sie verschwanden im Festzelt. Eine Bierkutsche kam angefahren, von vier stattlichen Rössern gezogen, und zwei bärenstarke Männer luden Holzfässer ab.
Wir schlenderten zwischen den Buden dahin und kauften Zuckerwatte mit dem Ergebnis, daß wir alle drei klebrige, rosarote Schnurrbärte bekamen. Die Tür zum Kasperltheater stand halb offen, und wir sahen Kinder mit andächtigen Gesichtern auf den Bänken sitzen. Eine kreischende Stimme schrie: „Seid’s alle da?“ Und Matty kreischte zurück: „Naaa!“
Wir lachten so, daß ich einen Schluckauf bekam. Dann fuhren wir Auto-Scooter; erst ich mit Matty, während Jörn zusah, dann Jörn mit mir; Matty fuhr allein. Wir stießen immer wieder absichtlich zusammen, und ich zog mir blaue Flecke an den Knien zu, aber Spaß machte es trotzdem.
„Jetzt schieße ich für Nell so ein komisches Lebkuchenherz, auf dem Sei mir 3 steht“, verkündete Jörn und zog mich zu einer Schießbude, vor der die ganze Dorfjugend versammelt war.
Ich wartete, während er zahlte und das Gewehr anlegte. Merkwürdigerweise spürte ich etwas wie Stolz, weil Jörn ein Herz für mich schießen wollte. Natürlich sagte ich mir, daß das albern war, und daß er das gleiche wohl für jedes Mädchen getan hätte, das mit ihm zusammen auf ein Volksfest ging; aber ich freute mich trotzdem.
Matty sagte nichts. Er stand neben mir und beobachtete seinen Bruder, genau wie alle anderen Mädchen und Jungen. Jörn schoß dreimal, ohne zu treffen. An seinem Gesichtsausdruck merkte ich, daß es ihm peinlich war, und daß er sich in seinem Stolz verletzt fühlte. Er kniff die Lippen zusammen, und eine Falte erschien auf seiner Stirn, als jemand spöttisch hinter uns sagte: „Ja, treffen müßt’ man halt können!“
Jörn zahlte noch einmal und versuchte es wieder, aber es klappte nicht. Er erzielte keinen einzigen Treffer. Ich fühlte mich scheußlich; so, als wäre ich schuld an seiner Niederlage.
Er legte das Gewehr nieder und sagte: „Die Dinger sind ja alle verzogen!“
„Laß es mich mal versuchen“, erwiderte Matty.
Jörn sah ihn verwundert an, trat dann zur Seite und machte ihm Platz. Er war rot im Gesicht. Ich sagte: „Ach, laßt uns doch weitergehen. Ich möchte gern mal mit dem Riesenrad fahren, es sieht so schön altmodisch aus.“
Doch weder Jörn noch Matty hörten auf mich. Matty zielte sorgfältig, drückte ab und traf. Auch der zweite Schuß war ein Treffer. Sein Bruder stand hinter ihm und sagte kein Wort. Der dritte Schuß ging daneben, aber Matty holte noch einmal eine Mark aus der Tasche.
Er schafft es! dachte ich. Er bekommt das Herz! Und ich wußte nicht, ob ich mich darüber freuen sollte. Erst abends, als ich im Bett lag, fragte ich mich, weshalb ich Jörn Erfolg gewünscht hatte, Matty aber nicht.
Matty schoß wirklich ein Herz für mich; allerdings ein anderes als das, auf das sein Bruder gezielt hatte. Auf seinem stand: Ewig dein, und er nahm es stolz entgegen und hängte es mir um den Hals.
„Danke“, sagte ich unsicher. „Ich hab nicht gewußt, daß du so gut schießen kannst.“
Jörn sagte gar nichts. Schweigend ging er neben uns her zum Riesenrad. Er ist ein schlechter Verlierer! ging es mir durch den Sinn. Er kann’s offenbar nicht vertragen, wenn sein Bruder auf irgendeinem Gebiet besser ist als er.
Matty murmelte: „Ich glaube, du hast ein bißchen zu sehr nach rechts gezielt, Jörn. Ich hab genau aufgepaßt, als du geschossen hast. Du hättest das Gewehr mehr nach links halten müssen.“
„Möglich“, sagte Jörn kurz. „Ist mir auch egal.“
Ich glaubte nicht, daß es ihm egal war, und Matty offenbar ebensowenig. Er sah seinen Bruder von der Seite an und äußerte nichts mehr. Ich zerbrach mir den Kopf, um ein unverfängliches Gesprächsthema zu finden, das die gespannte Stimmung vertrieb, aber mir fiel nichts ein.
Als wir das Riesenrad erreichten und uns vor der Kasse anstellten, sagte Matty: „Als Kind hatte ich furchtbare Angst vor Riesenrädern. Ich glaube, ich war ungefähr vier, als Mutter mich zum erstenmal mit einem Riesenrad fahren ließ. Als die Gondel oben war, muß ich so fürchterlich gebrüllt haben, daß der Besitzer das Riesenrad meinetwegen vorzeitig anhielt und mich aussteigen lassen mußte. Er war nicht besonders begeistert, was, Jörn?“
Jörns Gesicht hellte sich etwas auf. Er lachte. „Er hat geflucht und gesagt, wenn mehr Kinder so wären wie du, würde er seinen Beruf aufgeben.“
Ich war erleichtert. „Ich hatte immer Angst vor dem Kettenkarussell“, sagte ich, als wir in die Gondel stiegen. „Und vor der Geisterbahn, das war das schlimmste. Mein Vater hat zwar immer wieder versichert, daß die Gerippe über dem Eingang nicht echt wären, aber ich hab’s ihm nicht geglaubt.“
Die alte Orgel begann zu spielen, und unsere Gondel hob sich ein wenig. So ging es Stück für Stück nach oben, bis wir auf dem höchsten Punkt anlangten und alle Gondeln besetzt waren. Wir hatten einen wunderbaren Ausblick über das Dorf, die Hügel, Wälder und Täler und die Berge in der Ferne. Matty deutete auf ein Waldstück im Süden, hinter dem Dreililien und das Kavaliershäusl lagen.
Dann begann Jörn mit der Gondel zu schaukeln. Ich fand es richtig unheimlich. Matty wurde blaß um die Nase.
„Hör auf damit!“ bat er.
Jörn grinste. „Du hast wohl Angst?“ sagte er und schaukelte noch heftiger. „Wenn du’s nicht aushältst, weißt du ja, was du tun mußt, damit du wieder aus dem Ding rauskommst.“
Mir war völlig klar, daß sich Jörn damit für die Niederlage bei der Schießbude rächte. Ich sah ihn an, wie er mir gegenüber saß, mit seinen blonden Locken, dem hageren, gebräunten Gesicht, die langen Beine lässig ausgestreckt, so daß seine Füße in den Turnschuhen über die Einstiegkante ragten. In diesem Augenblick hätte ich ihm am liebsten eine Ohrfeige verpaßt.
„Hör auf mit dem verdammten Blödsinn!“ sagte ich so scharf, daß ich selbst überrascht war. „Ich finde das kindisch und gemein, wenn du meine Meinung hören willst.“
Er hob den Kopf und starrte mich halb wütend, halb ungläubig an. „Kindisch und gemein, was?“ wiederholte er. „Ich will Ihre Meinung aber nicht hören, Fräulein Klugscheißer.“
Ich hatte mich bei ihm unbeliebt gemacht. Immerhin hörte er zu schaukeln auf. Matty bekam langsam wieder Farbe, und keiner von uns sagte mehr einen Ton. Das Riesenrad drehte noch mehrere Runden; zwischendurch blieb es immer wieder stehen, so daß jede Gondel einmal ganz oben schwebte. Dann brach die Orgel ihr Spiel mit einem zitternden Ton ab, und wir stiegen aus.
Langsam und lustlos schlenderten wir den Weg zwischen den Buden zurück. Ich vermied es, Jörn anzusehen, und er machte es ebenso. Dann ließ vor uns plötzlich ein kleiner Dorfjunge sein Eis fallen.
Wir blieben stehen und beobachteten, wie er sekundenlang fassungslos auf den Boden starrte, wo das Eis zwei rosaroten und grünen Eidottern gleich in einer Schmutzlache lag. Dann begann er kläglich zu heulen.
Da tat Jörn etwas Unerwartetes. Er kniete neben dem Kleinen nieder und sagte: „Mach dir nichts draus, ich kauf dir ein neues!“
Der Junge sah zu ihm auf, als wäre er Sankt Georg, der Drachentöter, persönlich. „Die Hälfte übernehme ich“, sagte ich, und dann gingen wir zusammen mit dem Kleinen zum Eisverkäufer und kauften ihm eine Riesenportion Himbeer- und Pistazieneis.
Glückselig trabte der Kleine davon. „Wenn er das alles ißt, kriegt er bestimmt Bauchweh“, sagte Jörn.
Ich war ihm plötzlich überhaupt nicht mehr böse. Wir gingen zum Glückshafen und kauften drei Lose, und Matty gewann einen abscheulichen Aschenbecher, der mit einer nackten Frau bemalt war.
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