Wenn irgendetwas Kuji Sicherheit gab, dann war es das Revier seiner Bande: Loongkau war praktisch eine Festung. Auf den ersten Blick sah der Häuserblock nicht anders aus als die Nachbardistrikte in Ba Sing Ses Unterem Ring. Der sichtbare Teil wuchs planlos wie ein Pilz ein paar Stockwerke in die Höhe. Er trotzte der Schwerkraft und spottete jeder vernünftigen Architektur.
Es war jedoch ein offenes Geheimnis, dass der Komplex sich illegalerweise Ebene um Ebene tief in die Erde hinein fortpflanzte. Immer neue Untergeschosse waren gegraben worden, ohne dass dem Ganzen ein solider Plan oder ein Verständnis für Sicherheit zugrunde gelegen hätte. Alles wurde nur behelfsmäßig durch Holzreste, Lehmziegel und zusammengeklaubte, rostige Metallstücke abgestützt. Dennoch bestand Loongkau nach wie vor und war noch nicht in sich zusammengebrochen, was das Wirken der Geister sein mochte.
Das Innere des Komplexes bestand aus gewundenen Gängen, verschachtelten Räumen, Treppen und leeren Schächten. Armselige Kammern, die den Bewohnern als Behausungen dienten, saßen hier dicht an dicht wie Waben in einem Bienenstock und ließen nur Platz für enge Gassen. Loongkau war voller Fallen, so auch das Zimmer, in dem Kuji und Po warteten. Das war einer der Gründe, warum sich die Gesetzeshüter der Stadt nie an diesen Ort wagten.
Bis jetzt. Der Boss hatte einen Hinweis bekommen, dass die Festung der Goldenen Schwinge genau heute angegriffen werden würde. Jeder Bruder hatte Posten zu beziehen, bis die Bedrohung abgewehrt war. Kuji wusste nicht, was für ein Feind die Ältesten so in Aufregung versetzt haben vermochte. Um Loongkau zu belagern, schätzte er, wären mehr Polizisten nötig, als der Untere Ring zur Verfügung hatte.
Der Plan war dennoch solide. Wenn Eindringlinge in die unteren Etagen gelangen wollten, mussten sie einer nach dem anderen durch einen Engpass, der an diesem Zimmer vorbeiführte. So konnten sich Kuji und Ning jeden von ihnen einzeln vorknöpfen.
Es war zudem unwahrscheinlich, dass sie in einen Kampf geraten würden – zumindest redete Kuji sich das ein. Ein Stockwerk über ihnen schlich Halsabschneider Gong umher, der beste Attentäter, den der Boss hatte. Gong konnte einen Mungodrachen in seinem Versteck im Dschungel aufspüren und töten. Mit all den Köpfen, die er schon abgeschlagen hatte, hätte er eine ganze Scheune füllen können …
Im Stockwerk über ihm knallte etwas. Eine Stimme war nicht zu hören. Das kleine Zimmer fühlte sich plötzlich weniger wie ihr Revier und mehr wie ein Verschlag an, in dem sie wie eingepferchte Tiere festsaßen. Po gestikulierte mit seinem Beil. »Wir werden hören, wenn sie die Treppe runterkommen«, flüsterte er. »Dann schlagen wir zu.«
Kuji neigte seinen Kopf in die Richtung und lauschte angestrengt. Er wollte unbedingt mitbekommen, wenn sich jemand näherte, also lehnte er sich vor – und verlor prompt das Gleichgewicht, sodass er stolperte. Po verdrehte die Augen. »Du bist zu laut«, zischte er.
Wie um ihm Recht zu geben, flog plötzlich die Tür aus den Angeln, und jemand kam hereingeschossen und prallte mit Kuji zusammen. Der kreischte und fuchtelte mit seinem Dao , traf den Angreifer jedoch nur mit dem Knauf am Kopf. Po schnappte sich den Kerl und holte mit dem Beil aus, doch im letzten Moment hielt er inne.
Es war Halsabschneider Gong. Er war bewusstlos und blutete. Seine Handgelenke waren in die falsche Richtung verbogen und seine Knöchel waren mit seinem eigenen Würgedraht zusammengeschnürt. »Bruder Gong!«, rief Po und vergaß dabei selbst, leise zu sein. »Was ist passiert?«
Ein Krachen ertönte – nicht vom Flur her, den sie bewachen sollten, sondern von der gegenüberliegenden Wand. Zwei Arme mit Panzerhandschuhen an den Händen waren dort durch die Backsteine gebrochen und hatten sich in einem Würgegriff um Pos Hals gelegt. Kuji sah, wie seine Augen weiß vor Angst wurden, dann wurde Po mitten durch die Wand aus dem Zimmer gezerrt.
Kuji starrte ungläubig und wie betäubt das Loch an. Po war ein großer Mann, doch innerhalb eines Wimpernschlags war er fort gewesen, als wäre er einem Rabenadler zum Opfer gefallen. Hinter dem Loch, durch das er verschwunden war, war nichts als Finsternis.
Draußen knarrten die Dielen, als jemand darüber hinwegschritt, als wäre völlige Stille ein Mantel, den der Feind nach Belieben anlegen und abwerfen konnte. Tritte schwerer Stiefel kamen näher und näher.
Etwas schob sich durch den Türrahmen, sodass vom schwachen Licht des Flurs fast nichts mehr zu sehen war: Eine große, unglaublich große Gestalt trat herein. Eine schmale Spur aus Blut zog sich quer über ihre Kehle, als wäre ihr der Kopf abgeschlagen und wieder festgeklebt worden. Unter der Wunde bauschte sich ein Gewand aus grüner Seide. Das Gesicht war eine weiße Maske, die Augen nichts weiter als rote Striche – wie die eines Ungeheuers.
Zitternd hob Kuji sein Schwert. Er bewegte sich so langsam, als würde er durch Schlamm schwimmen. Das Wesen sah zu, wie er sein Schwert schwang, den Blick auf die Klinge geheftet, und irgendwie wusste Kuji, dass es ihn ohne Schwierigkeiten würde abwehren können. Wenn es denn wollte.
Die Klinge des Dao grub sich in die Schulter seines Gegners. Ein metallenes Knacken erklang, dann fuhr ein jäher Schmerz in Kujis Wange. Das Schwert war zerbrochen und die Spitze war zurückgeprallt und hatte ihn im Gesicht getroffen.
Das war ein Geist, musste einer sein. Einer, der durch Wände gehen und über Böden schweben konnte, eine Bestie, der man mit Klingen nichts anhaben konnte. Kuji ließ den Griff seines nutzlosen Schwertes fallen. Seine Mutter hatte ihm einmal erzählt, man könne sich gegen das Böse schützen, indem man den Avatar anrief. Schon als Kind hatte er gewusst, dass sie sich das nur ausgedacht hatte. Aber das hieß ja nicht, dass er sich nicht in diesem Augenblick entscheiden könnte, daran zu glauben.
»Der Avatar behüte mich«, flüsterte er, solange er noch sprechen konnte. Er fiel auf den Hintern und krabbelte rückwärts in die Zimmerecke. Der Schatten des Geistes bedeckte ihn vollständig. »Yangchen, behüte mich!«
Die Geisterfrau folgte ihm und senkte ihr rot-weißes Gesicht zu seinem herab. Ein Mensch hätte sich sicher abfällig über Kuji geäußert, so wie er mit eingezogenem Kopf dort kauerte. Die kalte Missachtung in ihren Augen war jedoch schlimmer, als Mitleid oder sadistisches Belustigung es je hätten sein können.
»Yangchen ist gerade nicht hier«, sagte sie mit voller, gebieterischer Stimme. Ihr Klang hätte schön sein können, wäre die Gleichgültigkeit darüber, ob er lebte oder starb, nicht so deutlich darin zu hören gewesen. »Dafür bin ich hier.«
Kuji schluchzte auf, als sie sein Kinn mit Daumen und Zeigefinger ihrer großen, kräftigen Hand packte. Ihr Griff war behutsam, ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass sie ihm ohne Mühe den Unterkiefer herausreißen könnte, wenn ihr danach verlangte. Die Frau hob sein Gesicht. »Und jetzt sag mir, wo ich deinen Boss finde.«
Kyoshis Hals juckte furchtbar. Die Garrotte war mit gemahlenem Glas überzogen gewesen, und obwohl sie keine tiefen Schnitte abbekommen hatte, reizten die winzigen scharfen Splitter noch immer ihre Haut. Recht geschah es ihr – wie nachlässig sie gewesen war! Der Drahtmann der Bande war zwar leise gewesen, aber keinesfalls so lautlos wie die Gesellschaft, in der sie sich während ihrer Daofei -Tage bewegt hatte.
Außerdem war sie ein Risiko eingegangen, den Jungen nicht ebenso auszuschalten, wie sie es mit seinen Älteren getan hatte. Aber er hatte sie an Lek erinnert: Wie er versucht hatte, mit seinem dummen Milchgesicht hart auszusehen, während man ihm ansehen konnte, wie sehr er nach der Anerkennung seiner eingeschworenen älteren Brüder lechzte. Sein purer, idiotischer Wagemut. Er war zu jung, um Mitglied einer Bande in den Slums von Ba Sing Se zu sein.
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