Was die förmliche Habilitationsschrift anging, blieb es bei Entwürfen und Stückwerk. Das bis heute unveröffentlichte, rund 140 Seiten umfassende Manuskript über »Die Überwindung der Wirtschaftskrise durch wirtschaftspolitische Beeinflussung« – eigentlich sein Lebensthema – hat er nie als Habilitationsschrift eingereicht, vermutlich weniger, weil er nicht in den NS-Hochschuldozentenbund eintreten wollte, wie er nach dem Krieg erklärte, sondern weil er mit Substanz und Stringenz selbst nicht zufrieden war – oder aber Vershofen, der ihn in dem Verfahren begleiten musste. Und für eine kumulative Habilitation reichte die Zahl und Breite seiner Aufsätze nicht aus. Dass die Berufung zum Professor im Dritten Reich allein an seiner fehlenden Mitgliedschaft in einer nationalsozialistischen Parteiorganisation – zu der etwa der NS-Dozentenbund gehörte – gescheitert sein soll, gehört daher ins Reich der Legenden und Selbststilisierungen, die Ludwig Erhard besonders in der unmittelbaren Nachkriegszeit 1945/46 durchaus karrierefördernd einzusetzen wusste. Er war schlichtweg stärker an konkreten, praktischen Wirtschaftsfragen orientiert und dabei vor allem an der Frage, wie sich die ökonomische Lage der breiten Massen verbessern ließ. Umfassende wirtschaftstheoretische Abhandlungen waren seine Sache nicht und sind deshalb auch aus späteren Phasen nicht von ihm überliefert. Das Manuskript für einen 200-Seiten-Band zum Thema »Konsumforschung und Konsumlenkung« lieferte er nie ab, obwohl er 1938 einen entsprechenden Vertrag mit dem Felix Meiner Verlag in Leipzig abgeschlossen hatte. 34
Seine Distanz gegenüber der NSDAP war allerdings keine bloße Behauptung. Die braune Ideologie, der brutale, pseudo-biologistisch begründete Rassenantisemitismus und die Lockungen der NS-Volksgemeinschaft – die für alle, die wie Kommunisten, Sozialdemokraten, Juden, psychisch Kranke bzw. geistig Behinderte, Roma oder Homosexuelle aus rassischen, sozialen oder politischen Gründen immer unerbittlicher ausgegrenzt und verfolgt wurden, ohnehin nur Schrecken bereithielt – blieben ihm durchweg zutiefst fremd. Auch den immer weiter ausgreifenden staatlichen Eingriffen bei gleichzeitig staatlich befohlener preisgestoppter Inflation stand er zunehmend skeptisch gegenüber. In den Friedensjahren von Hitlers Herrschaft erwies sich dabei das Nürnberger Institut für ihn aber wohl als eine jener »Nischen« in der Diktatur, wo man arbeiten und existieren konnte, ohne allzu sehr von den neuen Machthabern bedrängt und bedroht zu werden. 35Dabei mag eine Rolle gespielt haben, dass das NS-Regime wegen seiner massiven Aufrüstungspolitik der Fertigwaren- und Konsumgüterindustrie, die ja im Mittelpunkt des Interesses von Erhard und seinem Institut standen, wesentlich weniger Interesse und Aufmerksamkeit schenkte als der Grundstoff- und Schwerindustrie. Erhard meinte rückblickend auf die zweite Hälfte der Dreißigerjahre: »Von der Wertung menschlichen Glücks aus waren diese Tage, trotz der sich immer mehr ausbreitenden Schatten des Naziregimes, vielleicht die erfülltesten meines Lebens, weil in mir die äußeren und inneren Maße harmonisch aufeinander abgestimmt waren.« 36
Vershofen hat diesen Eindruck bestätigt. Er schilderte Erhard nach dem Krieg als »wundervoll geselligen« Menschen und nannte ihn zugleich – im Hinblick auf spätere Vorwürfe und vor allem das tiefe Zerwürfnis 1942 etwas überraschend – »ein geniales Organisationstalent«. 37Dabei mag eine Rolle gespielt haben, dass der 1937 zum Geschäftsführer und stellvertretenden Institutsleiter beförderte Erhard sich rasch als ausgemacht geschickter Akquisiteur von Aufträgen erwies und großen Anteil am Aufstieg des Instituts hatte. Als Erhard seine neue Assistentenstelle antrat, war das Institut der Nürnberger Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften angeschlossen (ab Mai 1933 »Hindenburg-Hochschule«) und wurde über deren Etat finanziert. Dazu kam ein kleiner Zuschuss von 6000 Reichsmark vonseiten eines Industrieverbands – pro Jahr. Als dieser während der ökonomischen Krise 1931/32 auf 1500 Reichsmark gekürzt wurde, stand es vor dem Aus wie kurz zuvor das väterliche Geschäft. Der Leiter Vershofen verschickte bereits Kündigungen, weil er zunächst keine Möglichkeit mehr sah, das von ihm damals noch primär wissenschaftstheoretisch ausgerichtete Institut weiterzuführen. Es war wohl tatsächlich Ludwig Erhard, der den Institutszug auf ein neues, stärker praxisorientiertes Gleis setzte und dadurch eine Fülle neuer Aufträge für Untersuchungen und Gutachten an Land zog. Diese wurden so ordentlich honoriert, dass Mitte der Dreißigerjahre zwischen sechzig und achtzig Mitarbeiter für das Institut und die GfK arbeiteten – und bezahlt werden konnten.
Die ungewöhnliche Expansion war nur möglich geworden, weil neben der engen Kooperation mit der Fertigwarenindustrie und den – nur partiell realisierten – ständischen Wirtschaftsorganisationen zunehmend auch Reichsbehörden wie das Wirtschaftsministerium die Dienste des Instituts in Anspruch zu nehmen begannen. Hierbei waren insbesondere die vielfältigen Verbindungen und Kontakte Ludwig Erhards von erheblichem Nutzen. Nach dem Wechsel des Ersten Stellvertreters Erich Schäfer 1937 auf eine Professur an der Handelshochschule Leipzig trat Ludwig Erhard interimistisch an dessen Stelle und übernahm auch die Schriftleitung bei der Institutszeitschrift Die Deutsche Fertigware . Der mit Erhards umtriebigem Wirken einhergehende Bedeutungszuwachs des Instituts, das sich zunehmend zu einer renommierten Mittlerstelle zwischen privatwirtschaftlichen Interessen und den Instanzen der NS-Staatswirtschaft entwickelte, führte 1938 zur Einführung einer neuen Stiftungsordnung, bei der die Stadt formal zum Verwalter der Stiftung und zur direkten Aufsichts- und Kontrollinstanz wurde. Damit war eine deutliche Erhöhung des jährlichen Zuschusses aus der Stadtkasse verbunden, der zukünftig etwa die Hälfte des Institutsetats ausmachte; bis 1942 im Schnitt etwa 85 000 Reichsmark 38, was das mittlerweile deutlich gewachsene städtische Interesse an dieser Einrichtung dokumentierte.
Ludwig Erhard stieg im Zuge dieser Umwandlung per 1. September 1938 nun auch offiziell und mit Zustimmung der städtischen Gremien zum 1. Stellvertreter Vershofens auf und wurde de facto Geschäftsführer des Instituts. Auf seine Ernennung und den wohlwollenden Brief Vershofens, der mit ihr einherging, reagierte Erhard so überschwänglich wie später in der Anfangsphase der Partnerschaft mit Konrad Adenauer auf die Gunstbeweise des Alten Herrn aus Rhöndorf. An Vershofen schrieb er jedenfalls Mitte September: »Lieber Herr Professor! Ihr Schreiben vom 10. hat mich von Herzen gefreut. Ich weiß nun wirklich nichts Besseres, als mit Ihnen an einer Sache und an einem Werk arbeiten zu dürfen, das ich immer – was ich auch selbst zum Gelingen beigetragen haben könnte – als das Ihre behandelt habe und behandeln werde. Nunmehr bin ich stolz, mich – im wahrsten Sinne des Wortes – Ihr Stellvertreter nennen zu dürfen. Als solcher bin ich nicht nur immer bereit, mit Ihnen solidarisch zu handeln, sondern mich auch Ihnen freudig unterzuordnen. Was ich zu meiner Arbeit allein brauche, das ist Ihr Vertrauen und Ihre Anerkennung und weil das aus Ihrem Briefe spricht – darum war ich sehr glücklich. Ich werde sie nie enttäuschen! Stets Ihr Ludwig Erhard.« 39
Diese mehr als euphorische Stellungnahme kennzeichnet das Innenverhältnis der beiden in den ersten zehn Jahren ihres gemeinsamen Wirkens sehr gut. Erhard war – wie dann auch bei Konrad Adenauer, der ihn fast zwanzig Jahre später, wenn auch nach langem Zögern, 1957 ebenfalls zu seinem Stellvertreter ernannte – nur zu gerne dazu bereit, als zweiter Mann dem Chef zuzuarbeiten. Hier wie dort genügten wenige warmherzige und anerkennende Worte, um ihn mit Euphorie zu erfüllen. Dann machte er aus seinem Herzen keine Mördergrube und dankte voll emotionalem Überschwang mit enthusiastischen Treueschwürden.
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