Die Arbeit selbst war kein Meisterwerk akademischen Scharfsinns, wie beide Gutachter übereinstimmend feststellten. Doktorvater Oppenheimer fertigte sein Gutachten übrigens erst nach der Bergwanderung und nach mehrfacher Aufforderung durch die Universitätsverwaltung an. Es hatte Platz auf einer Postkarte an die Alma Mater in Frankfurt und lautete: »Die Dissertation des Ludwig Erhard über die Werteinheit hat der Unterzeichner angenommen, vorbehaltlich vereinbarter Änderungen und mit III zensiert. Im früher stattgefundenen mündlichen Examen über die theoretische Nationalökonomie im Hauptfach hat er mit II bestanden.« Der auch zu dieser Zeit schon vorgeschriebene Zweitgutachter Prof. Fritz Schmidt, neben Eugen Schmalenbach, Heinrich Nicklisch und Wilhelm Rieger einer der bedeutendsten Betriebswirtschaftler jener Zeit, hatte ähnlich kurz geurteilt, zugleich damals schon Erhards bisweilen leicht genialische Arbeitsweise moniert und ihn zu Nachbesserungen verdonnert: »Die Arbeit zeugt von kritischem Denken und ist flüssig geschrieben. Das Positum scheint mir nicht geführt. Der Verf. operiert mit einer Arbeitswerttheorie, die nicht genügend scharf begründet ist. Quellenangaben sind sehr nachlässig im Text verstreut. Die Quellenangaben sind nachzuführen. Unter der Auflage für hinreichend: Note III. Schmidt.« 27
Die Verbindung zu seinem Doktorvater pflegte Erhard auch nach der Promotion, hielt zu ihm auch im Dritten Reich Kontakt, als der freundschaftliche Umgang mit jüdischen Deutschen längst schon sozial geächtet war, bis Oppenheimer sich 1938 schließlich doch noch zur Emigration in die USA entschloss. Beinahe wäre es zu spät gewesen – und Oppenheimer wäre verhaftet worden. Er unterschätzte lange die Bedrohung und war sogar nach dem ersten USA-Aufenthalt im Sommer 1936 wieder in Hitlers Reich zurückgekehrt, um seine reguläre Pension zu beziehen – er war damals bereits 72 Jahre alt –, die ihm nicht nach Amerika weitergeleitet werden durfte. Ab Januar 1937 wohnte er tatsächlich in der der Nassauischen Straße 9–10 in Berlin. Seine Tochter Renata hat in ihrem umfangreichen, in den USA verfassten Manuskript mit dem Titel One who got away von der dramatischen Phase berichtet, die begann, nachdem im April 1938 der Pass ihres Vaters von der Gestapo eingezogen worden war: »Jetzt endlich realisierte mein Vater, dass es Zeit war, das Land zu verlassen. Beinahe zu spät. Es war schon gefährlich geworden (für beide Parteien), irgendeinen sozialen Austausch mit ›Ariern‹ zu haben. Ludwig Erhard, ein Student meines Vaters und Kanzler in Westdeutschland nach dem Krieg, schaute vorbei, um Abschied zu nehmen – die Gestapo war Vater bereits auf den Fersen …« 28
Ludwig Erhards jüdischer Doktorvater Franz Oppenheimer mit seiner Tochter Renata kurz vor der Flucht aus Deutschland 1937/38 .
Weniger den energischen Warnungen Erhards als dem Mut seiner Tochter hatte es der Vater zu verdanken, dass er trotz der nach der Reichspogromnacht wieder massiv angestiegenen antisemitischen Welle und der Verhaftung von über 30 000 jüdischen Deutschen im Dezember 1938 seinen Pass tatsächlich zurückerhielt, wenn auch versehen mit den nunmehr vorgeschriebenen rassenantisemitischen Merkmalen, den Zwangsvornamen »Israel« – bzw. bei Frauen »Sarah« – und dem eingestempelten großen roten »J«. Sie insistierte unermüdlich und unerschrocken bei der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße, ihren Status als Halbjüdin und ihr Aussehen – blond und blauäugig wie auf einem BDM-Plakat – instrumentalisierend. Sie besorgte auch Visa und Ausreisebewilligungen, wobei der Vater seine Pensionsansprüche opfern musste als Äquivalent für die obligatorische Reichsfluchtsteuer. Am 24. Dezember 1938 ging er zusammen mit seiner Tochter in Marseille an Bord der Félix Roussel , um in die USA zu flüchten, wo schon seine Schwester Lisel lebte. Weil das Visum für die Tochter nicht eintraf, erreichten sie erst nach längeren Zwangsaufenthalten in Singapur und Japan anderthalb Jahre später, am 12. August 1940, den Hafen von San Francisco. Franz Oppenheimer sollte »his beloved Germany« nie wiedersehen, denn er starb 1943 in Los Angeles. Als Bundeskanzler hat Ludwig Erhard die Familie gebeten und ermutigt, wieder nach Deutschland zu kommen.
Er selbst kehrte nach dem Abschluss seines Studiums von Frankfurt am Main nach Fürth zurück. Als der Konkurs des väterlichen Geschäfts nicht mehr aufzuhalten war, bewarb er sich, als junger Familienvater auf ein geregeltes Einkommen angewiesen, Ende 1928 bei Wilhelm Vershofen, einem weiteren Professor an der Handelshochschule Nürnberg, der zugleich ein kleines »Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware« – heute würde man sagen: für Markt- und Konsumforschung – leitete. Zunächst ging es lediglich um eine Halbtagsstelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Erhard, der bereits bei Oppenheimer mit der Kapitalismusforschung der Zwanzigerjahre, mit den Ideen und Modellen von Emil Lederer, Georg Gothein und Joseph Alois Schumpeter in Berührung gekommen war 29, wurde zum 1. Oktober 1929 eingestellt – in jenem Monat, als mit dem Börsencrash in New York die Weltwirtschaftskrise fatale Fahrt aufnahm. Bei Vershofen lernte er nun die subtilen Methoden der Marktforschung kennen und erlebte die Übertragung amerikanischer Befragungspraktiken auf deutsche Verhältnisse aus nächster Nähe mit.
Vershofen ist damit zugleich der letzte in der Triade akademischer Lehrer, die Erhard menschlich wie wissenschaftlich stark beeinflussten, vielleicht der persönlich »vielseitigste«. 30Er hatte Germanistik, Philosophie, Naturwissenschaften und Nationalökonomie studiert, war als Spitzenkandidat der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) 1919 in die Nationalversammlung eingezogen, an der Ausarbeitung der Weimarer Verfassung beteiligt gewesen und seit 1921 als Dozent an der Handelshochschule in Nürnberg tätig. 31Zugleich schrieb er Romane. Nach der Machtübertragung und Machtergreifung Hitlers stand er als Personifizierung der nunmehr verhassten Weimarer »Systemzeit« zunächst unter Rechtfertigungsdruck und verschärfter Beobachtung, trat aber selbst nie in die NSDAP ein.
Wie schon zu Rieger und Oppenheimer entwickelte Erhard auch zu ihm rasch eine freundschaftliche Vater-Sohn-Beziehung; überzeugte durch sein Engagement, stieg rasch auf, wurde zwei Jahre später zum 1. Assistenten befördert und bereits im Oktober 1933 Mitglied der geschäftsführenden Leitung des Instituts. Zusammen mit Vershofen und Erich Schäfer gründete Erhard wenig später im Februar 1935 in Berlin die »Gesellschaft für Konsumforschung« (GfK). Bereits ein Jahr später verfügte sie über 300 ehrenamtliche »Korrespondenten«, die im Auftrag der Gesellschaft die in Nürnberg formulierten Fragebögen in bis zu 15 000 Haushalten abarbeiteten und so Informationen über die deutschen Verbraucher sammelten; in den folgenden Jahren wuchs das Korrespondentennetz immer weiter. Bereits in der Zeit zuvor, als allenthalben nach einem Ausweg aus der Weltwirtschaftskrise und der tiefen Depression gesucht worden war, hatte sich Erhard dezidiert in Leopold Schwarzschilds renommierter Berliner Zeitschrift Das Tage-Buch 32zu den großen ökonomischen Themen und Problemzusammenhängen jener Zeit geäußert, dabei 1932 in einem Artikel die von dem ins Lager der Nationalsozialisten übergewechselten ehemaligen Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht formulierten »Grundsätze deutscher Wirtschaftspolitik« scharf kritisiert und damit in Fachkreisen Aufsehen erregt. 33
Das Projekt einer Habilitation betrieb er aber allenfalls halbherzig, auch wenn er ab 1935 absatzwirtschaftliche Kurse des Instituts organisierte und von 1935 bis 1940 Lehraufträge für Marktordnung und Verbandswesen & Verbandspolitik an der Nürnberger Handelshochschule gab. In dieser Zeit hoffte er wohl auf eine Honorarprofessur, doch dazu kam es nicht, denn der Rektor der Hochschule in Nürnberg, Georg von Ebert, hielt ebenso wenig von der Idee wie das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus. Seine Lehrveranstaltungen, zu denen ihn vor allem sein akademischer Lehrer Vershofen gedrängt hatte – der ihm in einem wohlwollenden Gutachten Anfang 1939 die Befähigung zum außerordentlichen Professor bescheinigte –, fielen zudem wegen seiner vielen Reisen häufig aus.
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