Die politische Einstellung seines Vaters, der Familie umschrieb Erhard selbst später mit den Worten »kaiser- und königstreu«. 4Der Vater gehörte zu den Bewunderern der Hohenzollern – nicht von ungefähr bekam sein Sohn Ludwig, das zweitjüngste der vier überlebenden Kinder, den weiteren Vornamen Wilhelm 5, verehrte daneben aber auch Otto von Bismarck, übrigens gleichzeitig noch Eugen Richter, ebenjenen Mann, der im Namen seiner Deutschen Freisinnigen Partei größere Rechte für den Mittelstand forderte und bei dessen Reichstagsreden der Kanzler Bismarck den Saal zu verlassen pflegte. Solche Widersprüche nahm man damals nicht tragisch – man war liberal. 6
Ludwig Erhards Kindheit stand, was die persönlichen Lebensumstände anbelangt, unter einem guten Stern, auch wenn er mit drei Jahren an spinaler Kinderlähmung erkrankte, eine bleibende Gehbehinderung zurückbehielt und sein Leben lang orthopädische Schuhe tragen musste. Das materielle Auskommen der Familie war mehr als gesichert – er wuchs auf in einer »Atmosphäre bürgerlicher Beschaulichkeit und Sorglosigkeit, die keine Zweifel und Skrupel über die Angemessenheit einer scheinbar festgefügten gesellschaftlichen Ordnung aufkommen ließ«, wie er sich 1958 erinnerte. 7
Kindheit und Jugend im prosperierenden Kaiserreich – Ludwig Erhard mit seinen Eltern um 1915 .
Schon sehr früh schien der weitere Lebensweg klar und deutlich vorgezeichnet. Nach dem Besuch der Volksschule absolvierte Ludwig Erhard die Königliche Realschule in Fürth, die er mit dem »Einjährigen« beendete. Ein eher mittelmäßiger Schüler, der in Mathematik mit der Note »genügend« abschloss; die Eltern sahen keine Veranlassung, ihn auf das Gymnasium zu schicken und das Abitur machen zu lassen. Das »Einjährige« 8war Qualifikation genug, wenn er nach einer kaufmännischen Lehre in einem Nürnberger Textilkaufhaus das väterliche Geschäft, wie ausgemacht und abgesprochen, übernehmen sollte. Zwar reizte den jungen Ludwig Erhard, der als Kind das Klavierspiel gelernt hatte und in dem die Liebe zur Musik gewachsen war, der Gedanke, Dirigent zu werden, aber schließlich fügte er sich den elterlichen, vor allem den väterlichen Wünschen und unternahm die ersten Schritte in Richtung Kaufmann und Weißwarenhandel. Es war eine Zeit, in der man als Lehrling sechzig Stunden in der Woche arbeiten musste, was er gerne getan habe, und der Spitzensatz der Einkommensteuer bei 4,5 Prozent lag, wie er sich später leicht amüsiert erinnerte.
Doch der Krieg machte alle Pläne zunichte. 1916 wurde Ludwig Erhard, nachdem sein älterer Bruder Max am Ostermontag 1915 gefallen war und er sich daraufhin trotz seiner Gehbehinderung aus Patriotismus freiwillig gemeldet hatte, zum 22. Königlich bayerischen Feldartillerie-Regiment (Nürnberg) eingezogen. Nach der üblichen oberflächlichen Ausbildung schickte man ihn als Richtkanonier in die Stellungskämpfe in den Vogesen, im Münstertal, ab Oktober 1916 dann nach Siebenbürgen, an die rumänische Front. Dort wurde seine Einheit in zahlreiche Gefechte verwickelt. Er selbst erkrankte an Flecktyphus, überlebte aber, dem Mangel an Medikamenten und den ärztlichen Prognosen zum Trotz, bewies eine erstaunliche körperliche Robustheit und Widerstandskraft.
Sein optimistisches Naturell ließ ihn die Kriegserfahrungen auch nicht als primär traumatische Phase in Erinnerung behalten, sondern vor allem als eine Zeit, wo man Kameradschaft und Verlässlichkeit in einer Gemeinschaft kennenlernte, was er als sehr positiv wahrnehmen sollte. In seiner Privatbibliothek gibt es einen Baedeker-Band aus der Vorkriegszeit zu Rumänien, den er damals wohl im Tornister mitgenommen hatte und in dem sich die handkolorierte Zeichnung eines kleinen Städtchens mit Kirchturm findet. Von Hand hatte er auf diesem Bild vermutlich noch an der Front mit Bleistift einen kleinen Pfeil auf diesen Turm eingezeichnet und daran geschrieben: »Den hab ich zerschossen« – die naive Freude des Richtkanoniers über einen Treffer festhaltend.
Er berechnet die Geschossbahnen: Erhard als Richtkanonier auf der Geschütz-Lafette mit seiner Einheit in Rumänien, Herbst 1916 .
Er bringt es zum Unteroffizier und Offiziersanwärter, auch wenn er bei der ersten Prüfung im November 1917 noch durchfällt. Nach dem Waffenstillstand an der rumänischen Front im Dezember 1917 wird er nach Flandern versetzt, wo er im Februar 1918 die zweite Prüfung zum Offiziersanwärter besteht. 9Kurz vor Kriegsende treffen den mittlerweile zum Wachtmeister Beförderten bei Ypern mehrere Granatsplitter, verwundeten ihn schwer. Erst nach sieben Operationen konnte er seinen linken Arm, seine linke Schulter unter Mühe und Schmerzen wieder bewegen. Tiefe Narben blieben zurück. Aber Ludwig Erhard überstand auch das, überstand sogar die hohen Dosen Morphium, die ihm wegen der qualvollen Schmerzen verabreicht worden waren. 10Diese Zähigkeit, diese Fähigkeit, seinem Körper höchste Belastungen zuzumuten und abzufordern, sollte sich in allen späteren Lebensphasen als hilfreich erweisen. Außerdem zeigte sich bereits damals ein ganz charakteristischer Zug seines Wesens: der Optimismus. Ein gewisses Grundvertrauen, das möglicherweise durch die erfüllte, harmonische Jugend, durch die enge Eltern-Kind-Beziehung – wobei die tüchtige, lebenskluge und warmherzige Mutter eine zentrale Rolle gespielt haben mag – bedingt war, ließ ihn trotz der strapaziösen, leidvollen Erfahrungen die Kriegsjahre nicht ausschließlich in düsteren Farben in Erinnerung behalten. 11
Wie bei vielen Angehörigen seiner Generation veränderte der Krieg auch die weitere Lebensentwicklung von Ludwig Erhard, gab ihr eine gänzlich andere Wendung, auch wenn er zunächst von Umsturz, Revolution und dem eskalierenden Bürgerkrieg in Bayern, von den blutigen Kämpfen zwischen kommunistischer Räterepublik und Freikorps nur wenig mitbekam; er lag im Lazarett und blieb nach der Entlassung noch über Monate Rekonvaleszent. Selbst an ein Zupacken, ein Mithelfen im väterlichen Geschäft war überhaupt nicht zu denken.
Da in Nürnberg im Oktober 1919 eine neue Handelshochschule ihre Tore geöffnet hatte, beschloss er, dort als Gasthörer Kurse zu besuchen. Schon bald lernte er den Gründungsdirektor Wilhelm Rieger, einen Fachmann der Privatwirtschaftslehre, kennen. Diesen Kontakt bezeichnete Erhard später als »fast schicksalhaft entscheidenden Wendepunkt« in seinem Leben. 12Rieger kümmerte sich intensiv um den angehenden Studenten, empfahl ihm und den zögernden Eltern ein Vollstudium, ebnete später – Erhard hatte ja kein Abitur gemacht – sogar den Weg zur Immatrikulation an der Frankfurter Universität. Hochschule – das war eine andere, ferne, fremde Welt damals, eine entrückte Sphäre. Aber Rieger überwand die Bedenken der Familie, zog Ludwig Erhard in seinen Bann, weckte in ihm – nach dessen eigenen Worten – »die Liebe zur Wissenschaft« 13, lehrte ihn »vor allem die Kunst, folgerichtig zu denken«. 14
1922 bestand Ludwig Erhard sein Examen als Diplom-Kaufmann, übrigens gemeinsam mit einer vier Jahre älteren Kommilitonin, der Kriegswitwe Luise Schuster, geborene Lotter. Die Nachbarstochter und Spielgefährtin aus Fürther Jugendtagen war ihm bereits während des Studiums eine konzentrierte, aufmerksame Gesprächspartnerin bei der Diskussion wirtschaftswissenschaftlicher Fragestellungen gewesen – und mehr als das. Beide heirateten am 11. Dezember 1923. Da hatte sich Ludwig Erhard schon in Frankfurt am Main immatrikuliert, um seine Studien zu vertiefen und zu promovieren.
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