Adenauer verklärt, Erhard weitgehend vergessen – das gilt für die öffentliche Meinung, die politische Publizistik und, mit Abstrichen, auch für die Wissenschaft. 2»Von der Parteien Hass und Gunst verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte«, schrieb Friedrich Schiller über Wallenstein. Auf das Bild Konrad Adenauers trifft dies nicht mehr zu. Von Verwirrung, von Kontroverse keine Spur. Gunst und Hochachtung dominierten. Der Mann, dessen Anhänger, Freunde, Fürsprecher bei seinem Rücktritt 1963 in der kleinen Pfarrkirche von Rhöndorf Platz gefunden hätten, wie sein Mitarbeiter Horst Osterheld treffend bemerkte 3, besitzt nach seinem Tod fast nur noch Bewunderer. Die Kritiker und Gegner von einst haben sich längst eingereiht in den Chor der Lobredner; in seiner eigenen Partei will niemand mehr etwas davon wissen, wie leid man es war, sich unter seine Knute zu beugen, und welche Erleichterung herrschte, als er endlich abtrat. Nun berufen sich alle, auch seine Nachfolger im Kanzleramt, egal welcher Partei sie angehören, auf ihn, auf sein Werk. Die selbst ernannten Erben und Enkel sind bald nicht mehr zu zählen.
Dementsprechend rapide wächst auch der Berg der Bücher, die einzelnen Aspekten seiner Kanzlerschaft oder seinem Leben insgesamt gewidmet sind. Und – auch dies ein Indiz für den Verklärungsprozess – die Fülle der publizierten »authentischen« Adenauer-Äußerungen hat ebenfalls stark zugenommen. Seine Reden, Briefe, Teegespräche sind längst in voluminösen Editionen veröffentlicht, ganz so, als ob all diese Dokumente ohne Weiteres verständlich seien, als ob sie nicht sorgfältig erläutert, in den mittlerweile immer weiter entrückten zeithistorischen Kontext eingebettet werden müssten, was selbst der sorgfältigste Anmerkungsapparat niemals zu leisten vermag. Einen Adenauer in Goldprägung, den gibt es mittlerweile, auch wenn in den monumentalen Biografien von Henning Köhler und Hans-Peter Schwarz durchaus auch ein klares Licht auf seine Schattenseiten fiel. 4Denn es gab ja tatsächlich nicht nur den grandseigneuralen, charmanten Konrad Adenauer, es gab auch den schonungslosen, unerbittlichen. Wohl keiner hat das so direkt erlebt, erfahren und erlitten wie sein langjähriger Mitstreiter Ludwig Erhard, mit dessen Namen die Allerwenigsten heute noch sehr viel verbinden können – die voluminösmaterialreiche, 1996 erschienene, zugleich aber stark abwertende, ja fast hämische Biographie von Volker Hentschel hat daran ebenso wenig ändern können wie die zehn Jahre später erschienene, durchaus wohlwollende, aber auch nicht wirklich tiefschürfende Studie des amerikanischen Wirtschaftshistorikers (mit polnischen Wurzeln) Alfred C. Mierzejewski. 5
Ludwig Erhard und Konrad Adenauer – ein Gegensatzpaar im wahrsten Sinne des Wortes. Bei allem Antagonismus eben zugleich ein Paar, auf verblüffende Weise komplementär. Beide verband und einte über alle Gräben hinweg die Botschaft der Freiheit, der zutiefst antitotalitäre demokratische Grundkonsens, der sich gegen die nationalsozialistische wie die stalinistisch-sozialistische Diktatur gleichermaßen richtete. Ihre Botschaft der Freiheit verknüpften sie mit einem vielfachen »Nie wieder«, für das sie gemeinsam kämpften: Nie wieder Weimar, Wirtschaftskrisen, Währungsschnitte, nie wieder Diktatur, Rassenwahn und Klassenkampf. Jeder besaß dabei etwas, das dem anderen fehlte; ihre Talente, Begabungen, Fähigkeiten ergänzten sich ganz vortrefflich. Der rüstig-listige »Wundergreis« 6mit seinem nüchtern-pessimistischen Blick für Menschen, seinem geschärften Sinn für politische, nicht zuletzt außenpolitische Zusammenhänge, seiner klaren Konzeption der Westbindung und -integration der jungen Bundesrepublik, und der Wirtschaftszauberer, der tatsächlich über ein rasch wirksames Rezept für den ökonomischen Aufschwung verfügte und es mutig gegen immensen Widerstand durchsetzte, ja den marktwirtschaftlichen Urknall ganz eigentlich auslöste – sie stellten eine ideale Kombination dar. Beide auf ihre Weise Männer der Stunde, am richtigen Platz; beide gleichermaßen durchsetzungsfähig, obwohl sie dabei ganz unterschiedliche Wege gingen.
Auch nach den ersten gemeinsamen Anstrengungen in den Aufbaujahren 1948/49 brachte die Art ihrer Kooperation der zweiten deutschen Republik, der Regierung und nicht zuletzt auch der Union beträchtliche Vorteile. Wo Adenauer durch Härte und Entschiedenheit wirkte, glich Erhard durch Güte, Optimismus und mitreißende Beredsamkeit aus. Wo Adenauer als ein Politiker erschien, der mit harten Bandagen und bisweilen etwas anrüchigen Methoden kämpfte, schuf Erhard durch seine lautere Erscheinung ein Gegengewicht. Der eine verkörperte nach außen die väterliche Strenge, der andere die mütterliche Milde. Eine geschickte Rollenverteilung – und das Geheimnis ihres Erfolgs in zahlreichen Wahlen.
Zugleich eine erstaunliche Konstellation. Man könnte glauben, sie sei am Schreibpult eines Dichters entworfen, so spannungsreich, so dramaturgisch geschickt ist sie angelegt. Denn die Geschichte der Zusammenarbeit von Konrad Adenauer und Ludwig Erhard ist ja nicht allein und ausschließlich die Geschichte einer erfolgreichen Partnerschaft, sie enthält zugleich durchaus dramatische, tragische Züge. Ein begabter Schriftsteller könnte daraus gewiss den Stoff für einen handfesten zeithistorischen Schlüsselroman gewinnen.
Die Geschichte einer zerbrochenen Freundschaft. Am Anfang die große Romanze, die Werbung. Wie sich rasch herausstellt: zu viele Missverständnisse. Zugleich die Voraussetzung dafür, dass sich das »Stück« immer stärker zum Ehedrama nach Strindberg’schem Muster entwickelt. Die Temperaturen sinken, Kälte breitet sich aus. Der Alte stößt den Jungen, Jüngeren immer härter, immer unversöhnlicher zurück. Bewunderung, Verehrung, Anhänglichkeit, alles, was Erhard seinem Antipoden entgegenzubringen bereit ist, all die Erwartungen auf eine vertrauensvolle, harmonische Verbindung werden enttäuscht. Zahllose Waffenstillstandsverhandlungen bringen keinen dauerhaften Frieden, Versöhnungsfeiern sind einen Tag später bereits wieder vergessen – von Adenauer. Jeder der beiden Hauptbeteiligten beginnt Bedingungen zu stellen, die für den anderen unannehmbar, ja einfach unerträglich sein müssen: Adenauer will, dass Erhard seinen früh angemeldeten Anspruch auf die Kanzlernachfolge aufgibt, weil er ihn für einen politischen Nonvaleur hält. Erhard wünscht nichts sehnlicher, als dass Adenauer selbst ihn zum Nachfolger kürt, ihn – nach dem Vorbild der römischen Adoptivkaiser – als einzig legitimen Erben einsetzt, ihn segnet und salbt. Beides ist ausgeschlossen, die qualvolle Eskalation im langen Kampf ums Kanzleramt programmiert.
Im vorliegenden Band wird versucht, nicht nur wie bei einer Kriegsberichterstattung von all den vielfältigen Scharmützeln und Grabenkämpfen zu berichten, sondern zugleich ein Stück deutscher Zeit- und Nachkriegsgeschichte aus der Perspektive von zwei Schlüsselfiguren wie Konrad Adenauer und Ludwig Erhard zu schildern und zu analysieren und damit die Innenausstattung der Macht in der Adenauer’schen Kanzlerdemokratie in ihren entscheidenden Mechanismen und Ausprägungen näher auszuleuchten. Dabei versammelt dieses Buch die überarbeiteten und stellenweise ergänzten Kapitel des 1986/87 erstmals erschienenen Kampf ums Kanzleramt mit komplett neuen Teilen wie dem ersten, allein Ludwig Erhard und seiner Tätigkeit im Dritten Reich gewidmeten Abschnitt oder dem Kapitel über die Einführung der dynamischen Rente, einer Schlüsselentscheidung der Regierung Adenauer/ Erhard mit Folgen bis in die unmittelbare Gegenwart hinein.
Das entscheidende Stichwort bei alledem lautete stets: Informationen. Allgemein ein Kernproblem zeitgeschichtlicher Forschung, zugleich ein besonderes bei diesem Thema, das nicht bloß deutsche Geschichte, sondern auch zentrale Vorgänge in der Geschichte einer Partei, der CDU/CSU, behandelt und berührt. Der französische Soziologe Maurice Duverger hat einmal geschrieben: »[Es] umgibt sich das Parteileben gerne mit Geheimnissen. Selten erhält man genaue Auskünfte, selbst über die einfachsten Dinge. Es ist hier wie in einer primitiven Rechtsordnung, in der die Gesetze und Riten geheim sind und von den Eingeweihten scheu dem Blick der Profanen entzogen werden. Nur die alten Kämpfer der Partei wissen mit den Umwegen ihrer Organisation Bescheid und kennen die Feinheiten der Intrigen, die gesponnen wurden. Aber sie haben selten einen wissenschaftlichen Sinn, der es ihnen ermöglichte, die nötige Objektivität zu wahren. Und sie sprechen nicht gerne …« 7
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