Auf dieser Basis können hier tatsächlich erstmals wichtige und zweifellos durchaus kritische Punkte aus jener Zeit thematisiert und in einen größeren Zusammenhang eingeordnet werden, die die ohnehin spärliche »Erhard-Forschung« bislang weitgehend ausgespart hat: die Kooperation Erhards mit Gauleiter Josef Bürckel, dem er sich als Wirtschaftsberater vor allem für Elsass-Lothringen zur Verfügung stellte; Erhards Gutachtertätigkeit für die NS-Haupttreuhandstelle Ost (HTO) in den besetzten polnischen Gebieten, in Westpolen, Danzig und dem sogenannten Warthegau um Posen und die daran geknüpfte langwierige Auseinandersetzung mit der SS-Stabshauptstelle Himmlers als Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums; sein heftiges Zerwürfnis mit Vershofen und die Händel mit der nationalsozialistischen Stadtverwaltung in Nürnberg; Erhards Denkschrift über die Sanierung der durch Hitlers Rüstungs- und Kriegsfinanzierung abermals hyperinflationierten Reichsmark – er plädiert wie später die US-Finanzexperten Colm, Dodge, Goldsmith und Edward Tenenbaum für einen radikalen Währungsschnitt; der enge Kontakt zu Carl Goerdeler, einem führenden Kopf des Widerstands, den Erhard seit Mitte der Dreißigerjahre kennt und der ihn seinen Mitverschwörern 1944 kurz vor der Verhaftung wegen seiner Denkschrift noch als »guten Berater« empfiehlt; oder auch das einmalige Treffen mit Otto Ohlendorf im Reichswirtschaftsministerium, gleichfalls wegen der Denkschrift, sowie Erhards Beratervertrag mit der Rosenthal-Porzellanmanufaktur, wo er nach dem Krieg bei den Amerikanern zugunsten der »Arisierer« Partei ergreift und von einer Rückgabe an die in der NS-Zeit enteignete jüdische Eigentümerfamilie abrät. Selbst dass Ludwig Erhard 1942 das Eiserne Kreuz II bekam – um ihn nach dem heftigen Institutsstreit, der seinem Abschied dort vorausgeht, zu besänftigen –, ist uns nicht entgangen.
Erst durch all dies wurden die Voraussetzungen dafür geschaffen, den Weg Ludwig Erhards und die Entwicklung seiner Konzeption bis zum marktwirtschaftlichen Urknall und dem fast zeitgleich stattfindenden ersten Kontakt mit dem »Alten« von Rhöndorf skizzieren und anschließend die spannungsreiche Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Schlüsselfiguren der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte und damit das Innenleben der Kanzlerdemokratie auf einer breiteren, fundierten Basis untersuchen zu können.
Wie wurde damals Politik gemacht, wie durchgesetzt? »How to get things done« – das ist die entscheidende Frage. 9Wie regierte, wie behauptete sich Adenauer, wie legitimierte, wie stabilisierte er seine Herrschaft? Wie groß war der Freiraum, den er Ludwig Erhard bei der Gestaltung der Wirtschaftspolitik einräumte? Wann wurde der Regierungschef selbst aktiv, wann griff er ein? Welche Rolle spielten die jeweiligen Helfer, Mitarbeiter, Gefolgsleute? Wo holte sich Erhard seine Unterstützung? Gab es so etwas wie eine »Brigade Erhard«? Wie setzte sie sich zusammen, über welchen Einfluss verfügte sie? In welchen Etappen vollzog sich die Ablösung des ersten Kanzlers, inwiefern verschoben sich dabei die Gewichte in Regierung, Partei und Fraktion?
All diesen Fragen, die leicht zu stellen, aber schwer zu beantworten sind, soll in dieser Doppelbiografie nachgespürt werden, bei der allerdings die Perspektive Ludwig Erhards, dem heute im Vergleich zu Adenauer doch weithin Unbekannten und Vergessenen, dominiert. Es geht darum, zentrale Vorgänge in einem wichtigen Zeitabschnitt der deutschen Geschichte zu erforschen, als auf den Trümmern der Vergangenheit ein moderner Industriestaat errichtet wurde – einem Zeitabschnitt, der, wie eingangs erwähnt, nicht allein von Konrad Adenauer, sondern eben auch von Ludwig Erhard maßgeblich mitgeformt und mitgeprägt wurde.
Auch wenn sich heute fast alle Politiker bei wirtschaftspolitischen Sonntagsreden auf ihn, auf die »Soziale Marktwirtschaft« berufen, ist der Begriff doch mittlerweile sinnentleert und hat mit dem, was Ludwig Erhard wirklich wollte und vertrat, kaum mehr etwas zu tun. »Neoliberal« ist längst zum vergifteten Schimpfwort mutiert, Markt und Wettbewerb werden in weiten Teilen unserer medialen Welt nicht mehr als tragende Säulen unseres immensen Wohlstands verstanden und verteidigt, und damit wird zugleich der Blick auf die Kraft von Erhards Botschaft der ökonomischen Freiheit, gepaart mit maßvollem sozialem Ausgleich, immer mehr verstellt. Jener Staatseinfluss, den er als optimistischer Propagandist der Freiheit in seiner Sternstunde 1948 so entschlossen zurückgedrängt hat und vor dem er unermüdlich bis an sein Lebensende warnte, ist längst wieder massiv auf dem Vormarsch. Dabei war es seine – heute vergessene oder gering geschätzte – Entfesselungskunst gewesen, die nach den Verheerungen der braunen Diktatur und Zwangswirtschaft zusammen mit der Leistungsbereitschaft und Schaffenskraft von Millionen die Voraussetzungen für den gewaltigen ökonomischen Aufstieg schuf und damit Adenauers Politik der Westintegration so wirksam unterfütterte, dass am Ende tatsächlich – wie übrigens von beiden verschiedentlich prognostiziert – das sichtbare Scheitern des sozialistischen Experiments im anderen Teil Deutschlands und die Wiedervereinigung stehen sollte. Die Grundlagen dazu hatten sie in den fast zwanzig Jahren ihrer schwierigen Partnerschaft tatsächlich gemeinsam gelegt. Warum die Ära Adenauer auch eine Ära Erhard gewesen ist, das sollen die folgenden Kapitel veranschaulichen.
LUDWIG ERHARD: »UNSERE ZEIT WIRD KOMMEN!«
JUGEND, WELTKRIEG, WIRTSCHAFTSKRISEN – UND MARKTFORSCHUNG IM DRITTEN REICH
Wer war Ludwig Erhard? Welche Erfahrungen und Eindrücke haben seine Kindheits-, seine Jugendjahre bestimmt? Was ist für das Verständnis seiner Persönlichkeit, seiner Mentalität wichtig? Geboren wurde er am 4. Februar 1897 in der Sternstraße 5 in Fürth. In diese aufblühende Gewerbe-, Handelsund Garnisonsstadt mit ihren damals rund 50 000 Einwohnern war sein Vater, Philipp Wilhelm Erhard, schon rund ein Jahrzehnt früher gezogen. Als Sohn eines armen Kleinbauern aus dem Dörfchen Rannungen in der unterfränkischen Rhön hatte er sich zuvor in Schweinfurt als Lehrling, Gehilfe, Handelsvertreter im Textileinzelhandel verdingt, schließlich in Fürth als selbstständiger Kaufmann niedergelassen. Dort hatte er auch geheiratet. Die Mutter, Augusta Friederika Anna Erhard, geborene Haßold, entstammte einer alten fränkischen Handwerkerfamilie; ihr Vater war Seilermeister. 1Ihre Mitgift und die eigenen Ersparnisse gestatteten es Wilhelm Erhard, sein eigenes Weiß-, Wollwaren- und Ausstattungsgeschäft zu eröffnen. Vom Bauernsohn zum Kaufmann – Stationen eines sozialen Aufstiegs, wie ihn das wirtschaftlich prosperierende Kaiserreich im ausgehenden 19. Jahrhundert vielfach ermöglichte.
Das Milieu, in dem Erhard aufwuchs, wird man wohl zunächst als kleinbürgerlich bezeichnen können, obgleich hier von Anfang an die geistige Enge fehlte, die oft genug damit verbunden ist. 2In seinem Elternhaus herrschte eine beträchtliche Aufgeschlossenheit und Offenheit. Das war für Fürth nicht unüblich. Denn das politische und kulturelle Klima der Stadt war geprägt von Toleranz, der jüdische Bevölkerungsanteil war hoch, lag bei etwa zwanzig Prozent. Die konfessionelle Mischehe der Erhards wirkte sich deshalb nicht als Belastung, als Nachteil für die Familie aus. Der Vater, ein Katholik, ließ die Kinder durch die Mutter ihrem Wunsch entsprechend protestantisch erziehen. An den Familienfeiern nahmen jedoch Geistliche beider Konfessionen teil. Diese Erfahrung der religiösen Versöhnlichkeit und Harmonie war für den jungen Erhard wichtig, wirkte »formend« auf ihn und ließ in ihm die Vorstellung wachsen, dass zwischen Menschen unterschiedlicher Auffassung bei etwas gutem Willen stets ein Ausgleich gefunden werden könne. 3
Читать дальше