Erhard ist so stolz über dieses Lob, dass er es in einem Brief vom 29. September 1941 an August Heinrichsbauer, den Hauptgeschäftsführer der mit dem Nürnberger Institut vertraglich verbundenen Südosteuropa-Gesellschaft in Wien, ausführlich zitiert, nachdem er ihm schon zwei Wochen zuvor »vertraulich und zu treuen Händen« eine Kopie des Berichts hatte zukommen lassen. Er offeriert dabei, geschäftstüchtig wie er ist, eine ähnliche Untersuchung auch für die »Südostländer« Europas anzufertigen, die wie Rumänien, die Slowakei oder die Türkei dem Reich nicht feindlich gegenüberstehen und für die vom Weltmarkt abgeschnittenen Deutschen noch als Handelspartner infrage kommen. 5
Entsprechend zuversichtlich äußert er sich auch gegenüber Vershofen, dem er am 20. Oktober 1941 schreibt: »Von meiner vierzehntägigen Ostreise bin ich mit einer Fülle neuer Eindrücke zurückgekehrt. Das Erfreuliche an dieser Reise war vor allem die Überzeugung, die Ihnen Herr Dr. Holthaus bestätigen wird, daß unsere Arbeit bei allen Stellen im Osten die höchste Beachtung gefunden hat und daß wir von nun an sicherlich zu allen Aufgaben herangezogen werden, die in jenem Raum anfallen.« 6
Bei der HTO ist man von der Studie zunächst wirklich angetan, weil sie eine »gesunde Mischung zwischen staatlicher Wirtschaftslenkung und unternehmerisch wirtschaftlicher Initiative« darzustellen scheint. 7Das belegen auch die Ausführungen des HTO-Leiters Winkler in seinem Begleitschreiben vom 10. Oktober 1941, mit dem er den »Vorbericht« an den Leiter der Stabshauptstelle des Reichskommissars für die Festigung des Deutschen Volkstums, SS-Obergruppenführer Ulrich Greifelt, übermittelt. Das Gutachten enthalte »wichtige und beachtenswerte Beiträge zu den Planungen über den neuen deutschen Ostraum«, schreibt Winkler voller Zustimmung – allerdings nicht ohne sich abzusichern, man lebt schließlich in einer Diktatur. Er gibt seine positive Stellungnahme ausdrücklich ab mit der klaren Einschränkung: »ohne mir die Feststellungen und Vorschläge im einzelnen zu eigen zu machen …« 8
Tatsächlich war dieses Votum aus der HTO bzw. von Görings Vierjahresplanbehörde ebenso unwichtig wie die Ablehnung des mit »Streng vertraulich – nur für den Dienstgebrauch« klassifizierten Gutachtens in Ribbentrops Außenressort. Entscheidend für die Bewertung und weitere Bearbeitung ist Himmlers Behörde, sein Stabshauptamt, das am Kurfürstendamm 143/45 in Berlin sein zentrales Büro hat. Himmler selbst ist neben seiner Funktion als Reichsführer der SS und Chef der deutschen Polizei von Hitler durch den Führererlass vom 7. Oktober 1939 zugleich zum Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums (RKF) bestellt worden – eine Schlüsselposition für die Umsetzung der NS-Rassen- und Siedlungspolitik, die vor allem in den besetzten osteuropäischen Gebieten gewaltsam und massenmörderisch verwirklicht werden sollte. Auch die verwaltungstechnisch in den Reichskörper integrierten eroberten polnischen Gebiete, nicht nur das weiterhin separierte Generalgouvernement, wo sich bald die Vernichtungslager konzentrieren werden, sind SS-Land, Schlüsselterritorien des nationalsozialistischen Maßnahmenstaates. Überall dort werden viele Tausend Menschen unter schrecklichen Bedingungen erfasst, eingesperrt, deportiert, liquidiert. Hier soll die große nationalsozialistische »Umvolkung« ins Werk gesetzt, sollen die Juden zuerst in Ghettos gepfercht, anschließend umgebracht und die polnische Bevölkerung nach Liquidation der Eliten entrechtet, versklavt und teilweise – nach »Öffnung und Eroberung des russischen Raums« – weiter nach Osten abtransportiert werden, um deutsche arische Übermenschen an ihrer Stelle ansiedeln zu können. In seiner Denkschrift vom Mai 1940 hatte Himmler die Kernelemente dieser gnadenlosen, staatliche Kindesentführungen einschließenden Volkstums- und Germanisierungspolitik getreu dem NS-Prinzip »Das Wichtigste ist das Blut« offen skizziert und zugleich den zentralen Führungsanspruch der SS festgeschrieben, wie bereits der folgende kleine Ausschnitt belegt:
»Es muß in einer etwas längeren Zeit möglich sein, in unserem Gebiet die Volksbegriffe der Ukrainer, Goralen und Lemken verschwinden zu lassen. Dasselbe, was für diese Splittervölker gesagt ist, gilt in dem entsprechend größeren Rahmen für die Polen. Eine grundsätzliche Frage bei der Lösung aller dieser Probleme ist die Schulfrage und damit die Frage der Sichtung und Siebung der Jugend. Für die nichtdeutsche Bevölkerung des Ostens darf es keine höhere Schule geben als die vierklassige Volksschule. Das Ziel dieser Volksschule hat lediglich zu sein: Einfaches Rechnen bis höchstens 500, Schreiben des Namens, eine Lehre, daß es ein göttliches Gebot ist, den Deutschen gehorsam zu sein und ehrlich, fleißig und brav. Lesen halte ich nicht für erforderlich. Außer dieser Schule darf es im Osten überhaupt keine Schulen geben. Eltern, die ihren Kindern von vorneherein eine bessere Schulbildung sowohl in der Volksschule als auch später an einer höheren Schule vermitteln wollen, müssen dazu einen Antrag bei den Höheren SS- und Polizeiführern stellen. Der Antrag wird in erster Linie danach entschieden, ob das Kind rassisch tadellos und unseren Bedingungen entsprechend ist. Erkennen wir ein solches Kind als unser Blut an, so wird den Eltern eröffnet, daß das Kind auf eine Schule nach Deutschland kommt und für Dauer in Deutschland bleibt …« 9
Auf die Durchsetzung exakt dieser Politik war man in der SS-Stabshauptstelle verpflichtet. Entsprechend irritiert zeigte man sich nach der Lektüre des Nürnberger Gutachtens. Dabei fiel weniger ins Gewicht, dass in ihm explizit jegliche Äußerungen zu »den besonderen Problemen« von Litzmannstadt (Lodz) und Oberschlesien fehlten, die einem »Hauptbericht« vorbehalten bleiben sollten, wie Winkler in seinem oben erwähnten Schreiben bereits mitteilte. Dass Erhard auf diese Passagen verzichtet hätte, nachdem er im Januar 1941 bei seinem Besuch dort Kenntnis von den schrecklichen Verhältnissen im großen Ghetto bekommen hatte, muss Spekulation bleiben, den fehlenden Teil des Gutachtens zu diesem besonders von der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik kontaminierten Gebiet hat er jedenfalls nie nachgereicht. Befremdlich war für die Mitarbeiter in Himmlers Stabsstelle vielmehr, dass in den Vorschlägen Erhards gänzlich die völkischen Wörter wie »Parasit«, »Volksschädling«, »Untermensch« oder das Verb »ausmerzen« fehlten. Was für sämtliche von Erhard überlieferte Texte aus der NS-Zeit gilt, trifft also auch auf dieses Gutachten zu, das uns zwar nicht im Original vorliegt, aber dessen Diktion in einer Vielzahl ausführlicher Zitate in den diversen SS-Gutachten und Stellungnahmen aufscheint.
Der erste aufseiten von Himmlers Stäben, der entsprechend irritiert reagiert, ist SA-Standartenführer (i.e. Oberst) Heise, der als Beauftragter des Reichskommissars für die Festigung des deutschen Volkstums beim Reichsstatthalter des Reichsgaues Warthegau – das ja mit im Zentrum des Gutachtens steht – nach der Lektüre Anfang November 1941 SS-Hauptsturmführer Schmidt, »einen der besten Kenner der Volkstumsfragen des Ostens« (so Heise), mit einer umfassenden Analyse des Gutachtens betrauen wird.
Im Warthegau und im neuen Gau Danzig-Westpreußen ist zu diesem Zeitpunkt längst mit der Umsetzung des in Himmlers Stäben unter Federführung des Berliner Agrarwissenschaftlers Professor Konrad Meyer entwickelten »Generalplans Ost« begonnen worden. In diesen Territorien, wo 1939/40 etwa 9,5 Millionen Menschen lebten, der größte Teile davon mittlerweile Polen, ferner etwa 1,3 Millionen Deutsche und 560 000 polnische Juden, die rasch in Ghettos gepfercht, anschließend ins Generalgouvernement deportiert und ab Ende 1941 ermordet werden sollten, ist die sukzessive Vertreibung von mindestens 3,5 bis 4,5 Millionen Polen und die Neuansiedlung reichsdeutscher Siedler in gleicher Zahl vorgesehen. Von den deutschen Neuankömmlingen sollten mindestens 35 Prozent im Bereich der bäuerlichen Siedlung verbleiben, war diese doch für Himmler und die Vordenker des »Blut-und-Boden-Konzepts« zur Sicherung des »Volksbodens« zentral. In jedem Fall sollte der deutsche Bevölkerungsanteil zügig massiv um drei bis vier Millionen auf fünfzig bis siebzig Prozent erhöht werden. Der Besitz der zu vertreibenden Polen wurde dabei unter ähnlichen Bedingungen wie zuvor der jüdische »arisiert«, das heißt, er musste weit unter Wert an die neuen deutschen Besitzer veräußert werden, wobei anschließend der Staat den größten Teil des Verkaufserlöses abkassierte. Den »volksdeutschen« Käufern wurden zudem die Schulden erlassen und günstige staatliche Kredite eingeräumt, um die Verdrängung der polnischen Eigentümer noch attraktiver erscheinen zu lassen.
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