Das von Dr. Eggers angefertigte kurze Protokoll der mehrstündigen Sitzung ist erhalten geblieben und recht aufschlussreich:
»Die Herren des Instituts … erklärten, in ihrem Bericht von der Notwendigkeit ausgegangen zu sein, aus der industriellen Wirtschaft das Höchstmögliche im Interesse des Reiches herauszuholen. Bei dieser Aufgabe habe sich die Notwendigkeit herausgestellt, den Polen als möglichst qualifizierten Arbeiter und anspruchsvollen Verbraucher in Rechnung zu stellen. Ich habe dem entgegengehalten, daß die Aufgabe nur dann für den Reichskommissar befriedigend verwertbar gelöst werden könne, wenn umgekehrt die Notwendigkeiten für den Wirtschaftsaufbau von der Forderung aus betrachtet worden wären, die Polen als fremdstämmig zu betrachten, d.h. als Menschen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt aus dem Volkskörper der deutschen Wirtschaft ausgemerzt werden müßten. Damit spitzte sich die Erörterung auf die Frage der Menschenbeschaffung zu. Die Herrn des Instituts vertraten die Auffassung, daß die deutsche Wirtschaft nach dem Kriege unter einem noch gar nicht übersehbaren Menschenmangel leiden würde mit der Folge, daß Menschen für den Ostraum nicht verfügbar sein würden. Demgegenüber stellte Dr. Stier das unabänderliche Postulat der Lösung der Volkstumsfrage entgegen. Es sei unabänderliche Forderung, daß die Polen weichen müßten. Die Herrn des Instituts zeigten keine Neigung, sich mit den politischen Fragen auseinanderzusetzen, da nach ihrer Meinung diese von den dazu berufenen Stellen gelöst werden müßten. Sie räumten ein, daß das Ergebnis der Arbeit anders gelautet hätte, wenn die ihnen gestellte Aufgaben so gewesen wären, daß das Institut von diesem Postulat auszugehen Gelegenheit gehabt hätte. Ich machte den Vorschlag, in einer neuen Arbeit zu den Fragen des Aufbaus der Industrie im Osten Stellung zu nehmen. Es könnte nur wertvoll sein, zu erfahren, zu welchem Ergebnis die Untersuchungen führen würden, wenn die dargelegte politische Forderung als unveränderlicher Ausgangspunkt der Betrachtung zugrunde gelegt werde. Dr. Erhard erbot sich zur Anfertigung einer solchen Arbeit und nannte als Preis hierfür unverbindlich die Summe von RM 6.000,–. Die Anfertigungsdauer würde etwa 6 Monate betragen.« 15
In dieser Unterredung wurden Erhard und seine Nürnberger Mitautoren vermutlich erstmals unmittelbar und unzweideutig auf den Primat der Rassenpolitik hingewiesen, dem – Himmlers Anweisungen folgend – sich alle Entscheidungen im SS-Stabshauptamt unterzuordnen hatten. Sie mussten nun hören, wie mangelhaft und angreifbar ihr Papier dementsprechend für ihre Gegenüber von der SS ausgefallen war. Der Schreck wird ihnen gehörig in die Glieder gefahren sein. Vonseiten der SS-Herren wurde Tacheles geredet, vom »Ausmerzen« der »fremdstämmigen Polen« aus dem »deutschen Volkskörper« ist jetzt explizit die Rede. Die Gutachter kontern nicht ungeschickt mit dem Hinweis auf den sich immer stärker abzeichnenden Menschen- und damit Arbeitskräftemangel – ein sich im Verlauf des Krieges tatsächlich stark zuspitzendes Kernproblem, das auch bei der SS bald zu einem perversen Umdenken führen wird. Dem Regime sollen ab 1943 möglichst viele Arbeitssklaven zur Verfügung gestellt werden, wodurch die Vernichtung durch Gas in den Vernichtungslagern auf Himmlers Weisung um das Prinzip der Vernichtung durch Arbeit ergänzt wird und Häftlinge in großer Zahl als billige Arbeitssklaven an Industrieunternehmen »verliehen« werden.
In der Sitzung am 4. Juni 1942 war es aber noch nicht so weit. Dr. Stier von der Hauptabteilung I, ideologisch viel stärker auf Hitlers und_Himmlers rassenpolitische Positionen festgelegt als seine beiden Kollegen, besteht darauf, dass »die Polen weichen müssten«, dass also der Bevölkerungsaustausch unbedingt und unabänderlich Vorrang haben müsse vor wirtschaftlichen Gesichtspunkten, etwa dem Arbeitskräftemangel. Auf diesen Druck reagieren die Gutachter betont ausweichend. Sie erklären erstaunlich freimütig, keinerlei Neigung zu haben, sich mit den politischen Fragen auseinanderzusetzen, diese sollten vielmehr »von den berufenen Stellen« gelöst werden – Experten ziehen sich auf ihre Expertenposition zurück. Zugleich räumen sie ein, dass das Gutachten anders ausgefallen wäre, hätten sie das Postulat des Reichskommissars und seiner Behörde vorher gekannt – eine wichtige Konzession, denn sonst hätte sich jedes weitere Gespräch erübrigt. Dass man mit der SS über zentrale Punkte völkischen Denkens schlecht diskutieren konnte und sich mit ihr besser nicht anlegen sollte, hatte sich gewiss schon bis Nürnberg herumgesprochen. Das galt nicht zuletzt auch für das Stabshauptamt. Als eine Himmler direkt zugeordnete Behörde war es gegenüber allen anderen Hauptämtern und sonstigen Dienststellen der SS ebenso wie gegenüber der gesamten deutschen Polizei nicht nur weisungsbefugt, sondern verfügte über die Befehlsgewalt. 16
Nun wurden die drei Ökonomen aber nicht gleich verhaftet, sondern erhielten zum Glück von Dr. Eggers ein Angebot zur Wiedergutmachung. Sie sollten auf Basis der ihnen ja nun in extenso erläuterten politischen Forderungen die Studie überarbeiten bzw. in einer neuen Studie zu »Fragen des Aufbaus der Industrie im Osten« Stellung nehmen. Die Forderung ging auf den internen Wunsch der HTO als Auftraggeberin zurück, wo man ja ursprünglich von den Qualitäten des Gutachtens überzeugt gewesen war und jetzt als Reaktion auf die hereinprasselnde SS-Kritik eine Überarbeitung und Aktualisierung verlangte. Dr. Eggers und dann auch Regierungsrat Schäfer knüpfen mit ihrer Anregung, die Studie zu überarbeiten, daran an. Ludwig Erhard war es, der diesen rettenden Strohhalm sofort ergriff, sich zu einer Überarbeitung bereit erklärte, auch gleich einen Preis, 6000 Reichsmark (das entspricht etwa 25 000 Euro) und eine »Ausfertigungsdauer« nannte, sechs Monate. Eine sehr günstige Offerte – für eine Analyse des Schuhfabrikationsfilialsystems verlangte das Institut im Frühjahr 1941 40 000 Reichsmark als Gesamthonorar – bei einem Gesamtjahresetat von rund 290 000 Reichsmark, wovon 90 000 Reichsmark aus dem städtischen Etat von Nürnberg stammten und 200 000 Reichsmark vom Institut erwirtschaftet werden mussten. Allerdings waren im März schon 215 000 Reichsmark an eigenen Einnahmen gesichert, der städtische Anteil musste folglich nicht in voller Höhe ausgeschöpft werden. 17
Die Anregung zur Überarbeitung war tatsächlich ungemein hilfreich, das muss Erhard sogleich klar gewesen sein. Sie nahm die Brisanz aus dem abgelieferten Vorbericht. Sie versprach wertvollen Zeitgewinn. Sie verhinderte massiv negative Konsequenzen durch die SS, indem den Verfassern nun nicht Zweifel an der Regimetreue – die schon aus weit nichtigerem Anlass geweckt werden konnten – unterstellt wurden, sie also keine entsprechenden Ermittlungsverfahren zu befürchten hatten, von denen man nie wissen konnte, wie sie ausgingen. Außerdem war ein solcher Auftrag wie eine Art Schutzschirm, kannte das Regime doch unzählige Sonderbeauftragte und begegnete ihnen mit Respekt und Entgegenkommen.
Zurück in Nürnberg, diktierte Erhard in seinem Büro in der Badstraße 11, einem vom NS-Staat arisierten ehemals jüdischen Besitz, wo das Institut seit Ende Juni 1939 residierte, seiner Sekretärin Ella Muhr – wie das Kürzel E/Mu. unter dem Briefkopf verrät – einen kurzen, nichtsdestotrotz geradezu euphorischen Brief an einen seiner »Retter« in Berlin, an Regierungsrat Schäfer. Darin bedankte er sich überschwänglich für den »freundlichen Empfang und die ebenso interessante wie freimütige Aussprache, die im Ganzen sicher zu einer weiteren Klärung der in meinem Vorbericht angeschnittenen Fragen beitragen könnte«. Und formulierte die entscheidenden zwei Sätze: »Je mehr ich mir den von Ihnen vorgebrachten Gedanken überlege, desto mehr lockt mich die Aufgabe, umso mehr als ich überzeugt bin, daß die Betrachtung von einem anderen festen Pol aus nicht weniger interessante Einblicke vermitteln wird. Falls deshalb die Besprechungen in Ihrem Hause zu einem Entschluß nach dieser Richtung hin reichen werden, so werde ich gern bereit sein, mich der von Ihnen gestellten Aufgabe in voller Hingabe zu unterziehen«. Unter dem obligatorischen »Heil Hitler!« unterzeichnete er mit »Ihr sehr ergebener Ludwig Erhard«. 18
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