Was Erhard hier mit keinem Wort verrät, sind die heftigen Turbulenzen, in die er im Nürnberger Institut gerade in diesen Wochen und Monaten geraten ist. Aus der Geschäftsführung ist er im heftigen Zorn bereits Ende April ausgeschieden, ganz verlassen wird er es Ende September, die Mitarbeit in der GfK legt er zum Jahresende nieder. Auf diese Querelen wird im folgenden Kapitel noch ausführlicher eingegangen werden. Bezeichnend ist, dass er all das gegenüber den Herren der Stabshauptstelle über Wochen und Monate hinweg mit keinem Wort erwähnt. Gerade jetzt, wo er zu neuen Ufern aufbrechen muss und möchte und im Institut von einigen schlecht über ihn geredet wird, kann er sich eine Konfrontation mit der SS überhaupt nicht leisten, geschweige denn eine Beschädigung seines Images als Wirtschaftsfachmann durch öffentlich wirksame Rügen oder Beschwerden bei der städtischen Institutsaufsicht. Zweifeln an seiner Systemloyalität gilt es gerade jetzt entschlossen und umfassend jede Basis zu entziehen. Er muss daher in der Gutachtenfrage vor allem eines tun: Zeit gewinnen.
Wohl auch deshalb bemühte er sich so engagiert um eine Zusage, eine neuerliche Auftragserteilung bei der SS-Hauptabteilung. Er verspricht das Blaue vom Himmel, offeriert ohne Zögern das Einschwenken auf den geforderten Standpunkt der Regimevertreter, nennt diesen für ihn eigentlich konträren Ausgangspunkt »einen anderen festen Pol«, will sich der neu gestellten Aufgabe »voller Hingabe« unterziehen. Ja, dieser kurze Brief Erhards vom 8. Juni 1942 ist das Dokument einer opportunistischen Unterwerfung. Er will diesen Überarbeitungsauftrag unbedingt. Zu einem überzeugten Nazi wird er damit aber nicht, denn auch hier gilt: Papier ist geduldig und entscheidend ist, was am Ende bei alledem herauskommen wird.
Zunächst einmal kommen gute Nachrichten aus Berlin. Am 22. Juli 1942 lässt Schäfer den Nürnberger Konsumforscher wissen, »daß ich den Gedanken einer Ergänzung zum Vorbericht gestern SS-Gruppenführer Greifelt vorgetragen habe. Er hat diesen Gedanken zustimmend aufgenommen. Wegen des damit in Aussicht genommenen Auftrages … werden Sie zu gegebener Zeit nähren Bescheid erhalten.«
Doch so einfach, wie Schäfer und Erhard gehofft haben mochten, gestaltet sich die Sache nicht. Aufseiten der Stabshauptstelle herrscht nach der Aussprache in Berlin keine einheitliche Position, wie mit den Nürnberger Gutachtern weiter verfahren werden sollte. Kein Geringerer als der Chef von Himmlers Stabshauptamt, SS-Obergruppenführer Greifelt – er gehörte zum engeren Kreis um Himmler, war am 27. November 1941 von Reinhard Heydrich zur Wannseekonferenz eingeladen worden, am 20. Januar 1942 dann allerdings verhindert; nach dem Krieg wird er im Nürnberger Prozess gegen das Rasse- und Siedlungshauptamt (RuSHA) zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt werden und im Landsberger Gefängnis sterben – meldete kurz nach Schäfers Schreiben und anders als von diesem signalisiert starke Zweifel an der Verwertbarkeit der Studie an.
In Greifelts Schreiben vom 28. Juli an den Leiter der HTO, Dr. Max Winkler, in der Potsdamer Straße 28 wird die Ambivalenz sichtbar, wenn es dort u. a. heißt: »Der Vorbericht lässt erkennen, dass das Nürnberger Institut offenbar eine umfassende Arbeit geleistet hat, deren Ergebnis ebenso interessant wie aufschlußreich ist. Ich bemerke schon jetzt, daß auch der noch ausstehende Abschlußbericht mein uneingeschränktes Interesse finden wird. Wegen der praktischen Verwertbarkeit der Arbeit glaube ich jedoch, erhebliche Vorbehalte machen zu müssen. Da der Bericht von den Bedürfnissen der Wirtschaft im eingegliederten Osten, wie das Institut sie sieht, ausgeht, gelangt er zu volkstumspolitischen Forderungen, die im direkten Gegensatz zu den von mir vertretenen Grundsätzen und Anordnungen stehen.« Ein solches Votum von ganz oben, von der SS-Führungsebene, war natürlich intern in den Abteilungen nicht einfach beiseitezuschieben, und deshalb passierte über Wochen und Monate hinweg erst einmal – nichts.
Am 15. September 1942 fragt Erhard – unter privatem Briefkopf mit der Anschrift Forsthausstraße 49 in Fürth – bei Schäfer schriftlich nach, nachdem er ihn zwischenzeitlich – urlaubsbedingt – telefonisch nicht hatte erreichen können, und avisiert für die nächsten Tage einen Besuch in Berlin. Weil er keine Antwort bekommt, fasst er am 25. September 1942 in einem weiteren Privatbrief nach. »Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie mir mitteilen wollten, welchen Verlauf die Angelegenheit genommen hat. Meine Bereitschaft zur Ausarbeitung des Ost-Gutachtens in der von Ihnen gewünschten Fragestellung habe ich ja bereits zum Ausdruck gebracht«, heißt es jetzt – verständliche Ungeduld spricht aus seinen Zeilen. Endlich, am 15. Oktober 1942 meldet sich Schäfer und teilt immerhin mit, es sei weiterhin »vorgesehen«, Erhard mit der »Abfassung des bereits besprochenen Nachberichts zu beauftragen«. Zugleich macht er deutlich, wo die Schwierigkeiten liegen: »Um Ihnen Ihre Arbeit zu erleichtern, wird es notwendig sein, eine ganz klare Problemstellung zu finden. Die Formulierung ist nur nach Abstimmung mit den hier beteiligten Sachbearbeitern möglich. Daraus erklärt sich die Verzögerung.«
Diese interne Abstimmung erwies sich als kompliziert. Erst im Dezember liegen dem Erhard weiterhin durchaus wohlgesinnten Schäfer von der Hauptabteilung III (Wirtschaft) als federführendem Sachbearbeiter die Stellungnahme der Ämter I (Umsiedlung und Volkstum), IV (Landwirtschaft), V (Finanzverwaltung) und VII (Bauten) vor, wie aus seinem Rundschreiben an alle im Haus Beteiligten vom 28.12.1942 hervorgeht. Alle zugezogenen Ämter hätten, so stellt er darin fest, in ihren »in den wesentlichen Punkten übereinstimmenden Stellungnahmen zum Ausdruck gebracht, daß die vom Institut geforderte Volkstumspolitik unvereinbar mit den Forderungen des Stabshauptamtes sei«. Er, Schäfer, habe nach der Aussprache mit den »maßgeblichen Herren« Hauptamtschef Greifelt »den Vorschlag gemacht, einen Ergänzungsbericht anfertigen zu lassen, in welchem diese Forderungen des Stabshauptamtes zum Ausgangspunkt für die Betrachtung der Wirtschaft in den Ostgebieten und die Gewinnung von Erkenntnissen für die Gestaltung dieser Wirtschaft gemacht werden«. Damit sei SS-Gruppenführer Greifelt einverstanden gewesen. Zugleich bittet Schäfer nach Abschluss der internen Abstimmungen nunmehr rasch, also »bis zum 31.d.Mts, 10 Uhr spätestens«, um Zustimmung der einzelnen Abteilungen zur Auftragserteilung. Er fügt abschließend hinzu: »Der Auftrag um Ergänzung kann nur dem Geschäftsführer des Instituts, Dr. Erhard persönlich, erteilt werden, da das Institut begreiflicherweise vermieden wissen möchte, daß es selbst die Ergebnisse seines Berichtes bei einer erneuten Betrachtung korrigiert, überdies ist sein ursprünglicher Auftraggeber die HTO. Die Bearbeiter des Ergänzungsberichts würden dieselben des Vorberichts sein.«
Schäfer muss Erhard mittlerweile wirklich geschätzt haben. Er kam ihm weit entgegen, indem er ihn als einzig adäquaten Auftragnehmer präsentierte. Für seine wohlwollende Grundhaltung spricht auch die angedeutete Lockerung der zunächst gemachten Auflagen in der Schlusspassage des Rundschreibens: »Eine über das von mir in dem anliegenden Schreiben gewährte Maß hinausgehende Einengung des Themas könnte den Berichterstatter daran hindern, nach eigentümlichen Methoden zu suchen. Ich halte es jedoch für gut, wenn das vermieden wird.«
Unter dem Datum des 28. Dezember 1942 hatte Schäfer zudem bereits ein Schreiben für SS-Gruppenführer Greifelt an Ludwig Erhard entworfen und seinem Rundschreiben als Anlage beigefügt, mit dem diesem nunmehr definitiv der Auftrag erteilt werden sollte. Schäfer rechnete wohl jetzt mit einer raschen Entscheidung. In seinem Entwurf knüpfte er an die Besprechung mit den Nürnberger Gutachtern in Berlin vom Sommer an und schrieb:
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