Der Konflikt wird hier einmal mehr überdeutlich: Wo Ludwig Erhard Menschen, Arbeiter/Bauern, Konsumenten sieht und ihnen als Verbraucher eine Schlüsselfunktion für das Funktionieren des Marktes zuweist – die Institutszeitschrift, deren Mitherausgeber er ist, heißt nicht von ungefähr ab 1939 Markt und Verbrauch –, denkt man aufseiten der SS bei der angestrebten Germanisierung des Ostens in den fundamental anderen Kategorien des Rassenwahns, der 1933 in Deutschland Staatsdoktrin geworden ist. Man denkt völkisch-hierarchisch und hält die polnische Bevölkerung insgesamt vom Bauern bis zum Stadtbewohner für gänzlich minderwertig. Wirklichen Fortschritt hätten allein die deutschen Umsiedler in den dem Reich angeschlossenen Gebieten bewirkt und würden ihn weiter bewirken.
Diese Haltung vertritt ganz besonders hart und entschieden die Abteilung I Umsiedlung/Volkstum/Menscheneinsatz im Stabshauptamt, wie man einem erhalten gebliebenen Vermerk des dortigen Sachbearbeiters, SS-Hauptsturmführer (i.e Hauptmann) Dr. Günther Stier, vom 17. April 1942 entnehmen kann. Während man in der Abteilung III, der Hauptamtschef Greifelt im April 1942 die Federführung in Sachen Gutachten übertragen hatte, nicht allein ideologische Gesichtspunkte zur Bewertung heranzog, sondern auch an Antworten auf die Frage interessiert war, wie man die Wirtschaft in den besetzten Gebieten überhaupt produktiv in Gang halten, eventuell sogar zu Produktivitätssteigerungen veranlassen könne, dominierte in der Abteilung I allein die nationalsozialistische Sicht der Dinge mit ihrer dortigen »Menschenlenkungspolitik«. Ihr hatte sich die Wirtschaftspolitik zwingend unterzuordnen, so Hauptsturmführer Stier, der ein zutiefst überzeugter Anhänger des »Führers« und der NS-Ideologie gewesen sein muss, wie die folgende Passage bereits verdeutlicht:
»Für einen Nationalsozialisten ist es Sache des Glaubens und Wollens gegenüber einem Führerbefehl, daß die neu gegliederten Ostgebiete so schnell wie möglich und so vollständig wie möglich von den Polen geräumt werden. Dabei ist der Wirtschaftsaufbau in den Ostgebieten nicht nur Folge, sondern auch eine Ursache für die Bevölkerungsbewegung in den Ostgebieten. Wenn z.B. die Wirtschaft in den Ostgebieten schon jetzt darauf eingestellt wird, daß die Polen wichtige Arbeitsplätze in der Hand behalten, so wirkt dies hemmend auf den Zuzug von Reichsdeutschen…Die weitestgehende Räumung wenigstens der näheren Ostgebiete von Polen ist eine volkspolitische Notwendigkeit und entspricht einem Befehl des Führers. Sie wird durchgeführt werden, weil sie durchgeführt werden muß. Die Wirtschaft hat sich darauf einzustellen und nicht – wenn auch vielleicht unbewußt, durch entgegengesetzte Maßnahmen – diesen Prozeß zu erschweren.« 12
Eine etwas andere Position und Argumentation findet sich in der Aufzeichnung von Dr. Eggers, dem Sachbearbeiter der Abteilung III/Wirtschaft im Stabshauptamt, vom 15. Mai 1942. Ihm oblag es, die unterschiedlichen Stellungnahmen der einzelnen Abteilungen einzuholen. Nachdem er sich in längeren Ausführungen mit den Kernpassagen des Erhard-Berichts auseinandergesetzt hat, geht er auch explizit – und durchaus kritisch – auf die Position von Dr. Stier ein. Zunächst fasst er aber die für die SS problematischen Aussagen zusammen:
»Es wird in dem Bericht von der Vorstellung ausgegangen, daß trotz aller Wünsche, Pläne, Forderungen, Maßnahmen und Bemühungen der Zuzug der deutschen Volksgenossen nach den Deutschtumsfestigungsgebieten des ehemals polnischen Raumes (eingegliederte Ostgebiete) nicht groß genug sein wird, um das bestehende zahlenmäßige polnische Übergewicht zu beseitigen … Das Institut stellt, von der Vorstellung ausgehend, daß die deutsche Minderheit als solche weiterhin in den eingegliederten Ostgebieten bestehen bleiben werde, außerordentlich weitgehende Forderungen für die Volkstums- und Wirtschaftspolitik auf: ›Die allenthalben gehörte Äußerung, daß der Pole lediglich als eine Art Kuli an dem wirtschaftlichen Aufbau des Ostens mitarbeiten dürfte, stößt in der Wirklichkeit des Alltags auf Grenzen und Widerstände, denn die volle Leistungsentfaltung einer Wirtschaft bedingt auch den vollen Kräfteeinsatz der in ihr tätigen Menschen (vgl. S. 18) … Das soll bedeuten, daß eine Unterdrückung der Polen lediglich um des Prinzips der Unterdrückung willen nicht angängig erscheint, wenn man diese sog. Zwischenschicht im wirtschaftlichen Leben nicht entbehren kann … Die Gerechtigkeit gebietet überhaupt anzuerkennen, daß sich der polnische Arbeiter als willig und fleißig erwiesen hat (vgl. S. 19) … ›Nichts ist jedenfalls mehr geeignet, die Autorität der deutschen Oberschicht zu untergraben als ein unsicheres Schwanken zwischen milder Schwäche und brutaler Härte, aber gerade deshalb wird es als ein großer Mangel empfunden, daß es an einer einheitlichen Ausrichtung der Ostpolitik in allen Sektoren des beruflichen, gesellschaftlichen und politischen Lebens heute noch ermangelt‹ (vgl. S.20). Es wird vorgeschlagen, die Polen im Rahmen des nationalsozialistischen Wirtschaftsdenkens zur weltanschaulichen Mitarbeit zu gewinnen und sie aus ihrer sozialen Deklassierung zu befreien (vgl. S. 79). Sie sollen aus den Fesseln befreit werden, die ihnen die polnische Führung auferlegte. Sie sollen durch die deutsche Ordnung zu loyaler Mitarbeit herangezogen werden (vgl. S. 88).« 13
Das umfangreiche Nürnberger Wirtschaftsgutachten war für die SS-Stellen nicht allein deshalb so problematisch, weil in ihm ein fundamental anderes Polen-Bild gezeichnet wurde, als es in der NS-Ideologie vorgegeben war und in Himmlers Stäben vorherrschte. In ihm versteckt war auch – wie diese Passagen belegen – eine Kritik an der herrschenden Besatzungs- und Eindeutschungspolitik, die tatsächlich zwischen brutaler Härte aufseiten der SS und Konzessionsbereitschaft der Zivilverwaltung bzw. der auf die polnischen Arbeiter angewiesenen Unternehmer und Bauern schwankte. Dr. Eggers, der insgesamt Erhard und seinem Team gegenüber nicht komplett abweisend auftritt, kritisiert aber am Ende seines vierseitigen Vermerks – ein kleines Beispiel für das im NS-Staat übliche Kompetenzgerangel innerhalb der jeweiligen Institutionen – auch die Hauptabteilung I, die es »bis heute abgelehnt hat, sich zur Frage der Menscheneinsatzplanung in den eingegliederten Ostgebieten konkret zu äußern. Herr Dr. Stier weist nur darauf hin, daß es für einen Nationalsozialisten Sache des Glaubens und des Wollens gegenüber dem Führerbefehl sei, daß die neu eingegliederten Ostgebiete so schnell wie möglich und so vollständig wie möglich geräumt werden.« Eggers hält diese Haltung für leichtfertig, oberflächlich und unangemessen. Er stellt fest, dass nach seiner Auffassung jedenfalls »der Erlaß des Führers vom 7.10.1939 sich nur durchführen« lasse, wenn »hinreichende Kenntnis über das Wirtschaftsgefüge der zu besiedelnden Räume«, »Klarheit über die anzuwendende Aufbautaktik«, »Klarheit über die Entwicklungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten des Wirtschaftsgefüges der Siedlungsräume und der angrenzenden Wirtschaftsräume« sowie die »Kenntnis des übrigen großdeutschen Wirtschaftsgefüges, insbesondere in Bezug auf die Verbesserungsmöglichkeiten der Struktur durch Beseitigung von Entwicklungsbehinderungen« aufseiten der beteiligten deutschen Stellen vorhanden sei.
Eggers, davon dürfen wir also ausgehen, gehörte zu denjenigen im SS-Stabshauptamt, die den Bericht nicht gleich in den Papierkorb werfen, sondern substantiell ausgewertet sehen wollten. Allerdings war auch Eggers klar, dass zunächst einmal den drei Autoren des Nürnberger Instituts gründlich der Kopf gewaschen werden musste, weil sie in ihrem Text so überhaupt kein Sensorium für die NS-Rassen- und Raumpolitik bewiesen hatten, von Verständnis ganz zu schweigen. Für den 3. Juni 1942 wurden daher Dr. Erhard, Dr. Holthaus und Dr. Kerschbaum in die Stabshauptstelle nach Berlin-Halensee zitiert. Ihnen gegenüber saß neben Dr. Eggers und dem Protokollanten Regierungsrat Schäfer von der Hauptabteilung III auch mit dem oben erwähnten Dr. Stier ein Vertreter der Studien-Gegner aus der Hauptabteilung I. Insgesamt eine wissenschaftlich gebildete Runde mit immerhin fünf promovierten Teilnehmern, zwei davon aufseiten der SS; nicht untypisch für die damalige Zeit, in der sich auch eine Vielzahl von Akademikern in Himmlers Dienst stellten und besonders die Bevölkerungspolitik von ihnen mitgestaltet wurde. 14
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