Doch es kommt zu einer weiteren, gänzlich unerwarteten Wendung. Ausgerechnet jetzt wird Regierungsrat Schäfer einberufen und an die Front versetzt. Neuer Sachbearbeiter im SS-Stabshauptamt wird Dr. Hubrich, der Erhard vom Gestellungsbefehl für Schäfer am 29. April 1943 in Kenntnis setzt und für die Zeit vom 5. bis 7. Mai eine Unterredung mit dem Leiter des Amtes III, Rechtsanwalt Götz, in Berlin-Halensee anbietet, nicht ohne hinzuzufügen, »eine Vorbesprechung mit dem Unterzeichneten wäre sicherlich zweckmäßig«.
Zu diesem Zeitpunkt weiß der neue Sachbearbeiter Hubrich bereits, dass Rechtsanwalt Götz – die Abteilung III hält augenscheinlich auch nach dem Marschbefehl für Schäfer weiterhin an dem »Erhard-Projekt« fest – Hauptamtschef Greifelt erneut »die Zweckmäßigkeit eines Ergänzungsberichts vorgetragen und ihm als wahrscheinliches Honorar den Betrag von 5 bis 6.000,– Reichsmark genannt« hat. Nunmehr, so können wir seinem Vermerk ebenfalls vom 29. April entnehmen, waren alle entscheidenden Hürden beseitigt, denn: »Der Hauptamtschef hat seine Zustimmung zu der Beauftragung von Dr. Erhard gegeben.«
Am 5. und 6. Mai traf sich Hubrich in Berlin mit Erhard und Dr. Kerschbaum, der mit ihm und Dr. Holthaus, dem dritten Gutachter der ersten Studie, das Nürnberger Institut verlassen hatte und ebenfalls an der neuen Studie mitarbeiten sollte. Auch über dieses Treffen fertigte Hubrich einen internen Vermerk an. Dort heißt es: »Dr. Erhard nimmt den Auftrag an, im Sinne unseres Schreibens vom 28.12.42 einen Ergänzungsbericht anzufertigen. Er erklärt sich bereit, durch Rücksprache mit den einzelnen in Betracht kommenden Ämtern des Stabshauptamtes die volkstumspolitischen Forderungen und die Planungsziele des Reichskommissars sowie die neuesten wirtschaftlichen Entwicklungen in den Ostgebieten festzustellen. In vergleichender Betrachtung mit dem ersten Untersuchungsbericht will er die wirtschaftlichen Folgen darstellen, die sich aus bestimmten volkstumspolitischen Forderungen ergeben.« Bei dem Honorar von 6000 Reichsmark bleibt es, der Bericht soll bis August 1943 fertiggestellt sein.
Ludwig Erhard bittet Hubrich am 17. Mai postalisch um eine Bestätigung seiner Auftragserteilung und verleiht der Hoffnung Ausdruck, »daß irgendwelche Schwierigkeiten in der Zwischenzeit nicht mehr aufgetaucht sind. Umgekehrt bestätige ich meinerseits, daß ich nach erteiltem Auftrag sofort mit den verschiedenen Abteilungsleitern Ihres Hauses persönlich Fühlung aufnehmen werde, um das Gutachten, seine Voraussetzungen und seine Zielsetzung dem neuesten Stand anzupassen.« Anschließend geht tatsächlich alles rasch und glatt. Das erbetene kurze, vom Chef des Stabshauptamtes abgezeichnete Bestätigungsschreiben verlässt das Amt in Berlin am 19. Mai. Bereits fünf Tage später bedankt sich Erhard mit einem Vierzeiler bei Hubrich für den Auftrag, dankt zugleich ausdrücklich dem Sachbearbeiter »für Ihre freundliche Vermittlung«.
Wer nur diese kleinen Schriftstücke aus dem Mai 1943 liest und nicht die ganze Entwicklungsgeschichte von Erhards Gutachten kennt, könnte meinen, dass er sich hier endgültig für einen Pakt mit der SS entschieden und damit ihrem Diktum unterworfen hatte. Was nun scheinbar definitiv vereinbart worden war, stand in krassem Gegensatz zum Inhalt des ersten eingereichten Vorberichts und bedeutete ein vollständiges Einschwenken auf die volkstumspolitische Linie des Regimes. Tatsächlich durchlebte er, dem in diesen Wochen auch noch die Einberufung zur Wehrmacht drohte, gerade »die kritischsten Monate seines Lebens« – wie selbst der ihm gegenüber ansonsten recht skeptisch eingestellte Karl Heinz Roth in seiner Untersuchung der Kriegsaktivitäten Erhards durchaus treffend festgestellt hat –, weil seine berufliche Zukunft noch weitgehend ungesichert schien und keineswegs garantiert war, dass er nach dem bitteren Abschied von Vershofen ohne Schwierigkeiten in eine neue Beraterrolle hineinfinde würde. 19Deshalb gab er sich überaus konzessionsbereit. Allein, war Ludwig Erhard, als er diese Abmachung aus taktischen Gründen einging, wirklich bereit und entschlossen, sie zu erfüllen und einen vollständig anderen Bericht abzuliefern? Das scheint schon zum damaligen Zeitpunkt, Anfang Mai 1943, fraglich. Es deutet manches darauf hin, dass er jetzt alles abnickte, um es sich nicht mit der SS zu verderben, er aber bereits entschlossen war, auf Zeit zu spielen, hinhaltend zu taktieren – und den Folgebericht niemals fertigzustellen beabsichtigte.
Was spricht für diese Annahme? Zunächst einmal, dass Dr. Hubrich das vom Chef des Stabshauptamtes, SS-Gruppenführer Greifelt, abgezeichnete Bestätigungsschreiben Erhard ausdrücklich nach Saarbrücken ins noble Hotel Messmer schicken sollte (es ging allerdings unter dem Datum des 19. Mai dann doch nach Fürth). In Saarbrücken hatte Josef Bürckel, der alte Mentor Erhards aus den Zeiten des »Anschlusses der Ostmark«, von 1940 bis 1944 sein Hauptquartier als Reichsstatthalter der Westmark und Chef der Zivilverwaltung in Lothringen. Dorthin hatte er Ludwig Erhard seit 1940 immer wieder zu kürzeren oder längeren Aufenthalten geholt und ihn regelmäßig mit neuen Aufgaben betraut – diesmal sollte er wohl den Wiederaufbau und Absatz der lothringischen Glas- und Porzellanproduktion vorantreiben. Damit war der Auftrag der Stabshauptstelle in Berlin nicht mehr wirklich notwendig – sowohl materiell wie als Rückversicherung. Die aktuelle Rückendeckung durch Bürckel genügte völlig, und dieser Auftraggeber war hochrangig genug, um ihn auch vor etwaiger Drangsalierung durch das SS-Stabshauptamt zu schützen. Die versprochenen Treffen mit den Abteilungsleitern in Berlin fanden jedenfalls nicht statt. Rückmeldungen von Erhard an das dortige Amt über eigene Aktivitäten unterblieben. Der August verstrich – und nichts war geschehen, geschweige denn, dass der Bericht wie versprochen fertiggestellt und abgegeben worden wäre. Am 10. September 1943 wird aus der Abteilung IV an Dr. Hubrich die Bitte gerichtet, »für den Fall, daß der Bericht inzwischen eingegangen sein sollte«, ihn weiterzuleiten. Der betreffende Sachbearbeiter ist nicht ganz im Bilde – er spricht noch vom »Untersuchungsbericht des Instituts für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware, Nürnberg«.
Aber eigentlich ist die ganze Stabshauptstelle nicht richtig im Bilde. Denn tatsächlich hatte bereits im April das Nürnberger Institut seinen 246 Seiten umfassenden Schlussbericht über die Wirtschaft des neuen deutschen Ostraumes bei der HTO abgeliefert. Er ist vollständig erhalten und kann im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg eingesehen werden. Auch in diesem Bericht wird wie schon im von der Stabshauptstelle monierten Vorbericht Erhards ein ganz anderes Polenbild transportiert, als es den Apologeten des Rassenwahns vorschwebt, auch wenn Ludwig Erhard von Vershofen Anfang August 1942 wegen interner Institutsstreitigkeiten die Federführung entzogen und an Erich Schäfer übertragen worden war. Auf Seite 97f. steht etwa – und diese Passage sei pars pro toto zitiert:
»Wenn sich jemand über die Arbeitsfähigkeit der Polen in durchaus positivem Sinn ausspricht, so kann dieses Urteil von den Berichterstattern des Instituts nur bestätigt werden. Es sind ihnen bei ihren persönlichen Beobachtungen der Betriebsverhältnisse in den angegliederten Ostgebieten kaum je Klagen über die mangelnde Arbeitsfähigkeit der polnischen Gefolgschaftsmitglieder zu Ohren gekommen. In vielen Fällen wurde von den Betriebsführern nicht nur die Willigkeit, sondern auch die Leistungsfähigkeit der Polen ausdrücklich anerkannt. Es ist nach Meinung der Gutachtenden keine Frage, dass eine Qualitätssteigerung der Leistungsergebnisse der polnischen Arbeitskräfte und eine Wertangleichung an die deutsche Arbeit bei richtigem Arbeitseinsatz, zulänglichen Arbeitsbedingungen, verantwortlicher Betriebsführung und nicht zuletzt durch Maßnahmen der Arbeitsschulung zu erzielen sind.«
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