Das Hausmädchen Maria Stella erzählt dem Kleinen die gleichen Geschichten, die ihr erzählt worden waren, als sie klein war. Es sind Volkserzählungen, wie die vom Haus der Granellas, das von respektlosen Gespenstern bewohnt wird, oder die Geschichte vom Raben von Mìzzaro, auch sie mit Gespenstern als Hauptfiguren, oder die vom Engel Einhunderteins, der nachts eine große Engelschar anführt. Als erwachsener Mann kehrt Pirandello wieder zu diesen Geschichten zurück, die er aus dem Mund von Maria Stella gehört hatte, und macht sie zum Gegenstand seiner Novellen (die Geschichte des Engels Einhunderteins wird einen großartigen Monolog in dem Theaterstück Die Riesen vom Berge; I giganti della montagna bilden). Aber es steht außer Zweifel, daß die Geschichte, die den kleinen Jungen am meisten beeindruckt, die Geschichte vom vertauschten Sohn ist.
Das Märchen vom vertauschten Sohn ist im Grunde überall auf der Welt bekannt, mit Varianten, die den verschiedenen Kulturkreisen entsprechen. Die mediterrane Version erzählt von einer armen Mutter, die sich nicht mit der Realität abfinden kann: ihr Kind in der Wiege ist ein mißgestaltetes Wesen, doch sie reagiert, indem sie sich in die Überzeugung flüchtet, daß ihr wirklicher Sohn, ein schönes blondes Kind, von den Donne (den Hexen) geraubt wurde, die an seiner Statt dieses andere, dieses häßliche, verkrüppelte Kind zurückgelassen haben, das nicht einmal sprechen kann. Eines Tages legt im kleinen Hafen ein fremdes Schiff an. An Bord ist ein junger kranker Prinz, der gekommen ist, um in der Sonne des Südens Heilung zu finden. Und gleich ist die Mutter der Überzeugung, daß der Prinz ihr wirklicher Sohn ist, der wie durch ein Wunder zurückkehrt. Der verkrüppelte Sohn (der auf dem Kopf eine Krone aus Papier und Glitzersteinen trägt und spöttisch ›Königssohn‹ genannt wird), will in seiner Eifersucht den Prinzen töten, aber es gelingt ihm nicht. Unterdessen stirbt der Vater des Prinzen und der junge Mann wird zum König ernannt. Doch der Prinz weigert sich, in sein Land zurückzukehren. Und so schlägt er einen Tausch vor: an seiner Stelle soll der Krüppel zum König gekrönt werden. Die Minister weisen diesen Vorschlag zurück. Und der Prinz:
Glaubt mir ,
es liegt gar nichts daran ,
ob es dieser oder jener sei:
wichtig ist nur die Krone!
Tauscht ihm die aus Papier und Glas
gegen eine aus Gold und Juwelen ,
das Pellerinchen gegen den Pupur ,
und der Spottkönig wird echt ,
ihr könnt ihm huldigen .
Und dazu braucht’s nichts anderes
Als daß ihr dran glaubt .
ERSTER MINISTER: Majestät, wie sollten
wir denn aber …
PRINZ: Was denn? Daran glauben?
Das kann man immer! Alles kann man!
HAUSHOFMEISTER: Doch daran nicht, weil wir ja wissen ,
es ist nicht wahr!
PRINZ: Aber nichts ist wahr ,
und alles kann wahr sein ,
man braucht’s nur zu glauben für einen Moment ,
und dann nicht mehr, und dann wieder ,
und dann auf immer oder nie mehr .
Die Wahrheit, die kennt Gott allein .
Der Menschen Wahrheit ist immer
daran geknüpft, daß man
an die glaubt, die man empfindet. Heute so
und morgen anders. Glaubt mir ,
glaubt mir, diese
wird euch viel besser passen
als die meine .
Ich kenne sie jetzt ,
meine Wahrheit .
Ich bin hier Kind gewesen ,
mit dieser Mutter, geboren unter dieser Sonne ,
und arm, aber was liegt daran?
Mit dieser Mutterliebe ,
und diesem Himmel und diesem Meer
und Gesundheit und Freude
mein Leben zu leben ,
»meines«, mein wahres Leben für mich!
Vor diesem Meer, vor diesem Himmel
seh ich auch die Häuser
aufatmen, befreit vom Zwang .
Und jedes Haus, sei es noch so bescheiden ,
wird hier zum Sonnenpalast!
Alles zu meinen Füßen sehen?
Lieber fühle ich
etwas über mir!
Nehmt ihn hin, bringt ihn weg ,
weit fort von hier, euren König!
Natürlich geht die Geschichte so zu Ende, wie der Prinz es will: auf das Schiff, das gekommen ist, um ihn abzuholen, geht an seiner Stelle der komische, jämmerliche Königsnarr.
Die Treue des Schriftstellers und Dramatikers Pirandello zu dieser volkstümlichen Geschichte, die er als kleines Kind gehört hat, ist über die Jahre fest und stark.
Die Erzählung Der vertauschte Sohn erscheint in der 1925 veröffentlichten Novellensammlung Von der Nase zum Himmel , die im Grunde aber beim ersten Teil des Märchens aufhört, das heißt es fehlt die Ankunft des Prinzen. Die Selbsttäuschung der Mutter wird durch eine Magierin, Vanna Scoma, genährt, die ihr von Zeit zu Zeit Nachrichten über den von den Hexen vertauschten Sohn bringt und ihr erzählt, daß er wie ein Prinz lebt, von allen geliebt wird und glücklich ist.
Die Magierin tut dies zwar in der Absicht, ihr ein bißchen Geld zu entlocken, doch gibt es in ihr auch einen Zug von Mitleid: sie sagt der Mutter nämlich, daß, wenn sie den behinderten Sohn, der ihr von den Hexen dagelassen wurde, gut behandelt, es auch dem anderen, dem wirklichen gut gehen werde.
LUIGI, DER VERTAUSCHTE SOHN
Mit dem Eintritt in ein Alter, in dem er nachzudenken beginnt, stellen sich bei dem kleinen Luigi Zweifel an seiner Zugehörigkeit ein. Was hat er, der sich alles wohl überlegt, der überhaupt nicht lausbubenhaft ist, der sich in sich zurückzuziehen versteht, der zwischen kastanienbraunen Locken, die ihm seitlich ins Gesicht fallen, aus großen, aufmerksamen Augen blickt (so porträtiert er sich in der Novelle Die kleine Madonnenstatue; La madonnina ), mit dieser brüllenden, unbeherrschten Hünengestalt des Vaters zu tun, der die Mutter so oft zum Weinen bringt?
Doch Vorsicht: Stefano Pirandello war kein grober, ungebildeter Klotz, wie es scheinen könnte, wenn wir ihn nur mit den Augen des kleinen Luigi sähen. Er war beispielsweise Schüler des großen Humanisten Gaetano Daita, der ihm unter anderem Englisch und Französisch beigebracht hatte, damals wie heute unverzichtbare Sprachen für jemanden, der Handelskaufmann werden will. Das Problem lag in seinem Charakter.
Die Geschichte vom vertauschten Sohn, die Maria Stella ihm erzählt hatte, war für ihn eine Art Offenbarung: nicht nur, daß er am falschen Ort und am falschen Tag geboren wurde, sondern möglicherweise war dieses abstürzende Glühwürmchen (als solches hatte er sich ja seine Geburt vorgestellt) auch noch in die falsche Familie gekommen. Ja, ganz sicher ist es so gewesen, denn er fühlt, daß er zu einer anderen Familie gehört, zu einem anderen Schlag.
Über die Verschiedenheit der Sizilianer untereinander hat Vitaliano Brancati Erhellendes geschrieben.
»Hier in Sizilien ist es – wenn man von Signor Luciano zu Signor Maddalena wechselt (was man tut, wenn man einen Treppenabsatz mit nur einer Stufe überquert) – so, wie wenn man von einer Konstellation zur anderen flöge.«
Und Brancati war es auch, der uns von grundlegenden Unterschiedlichkeiten im Hinblick auf Charakter und Temperament innerhalb derselben Familie erzählt hat.
Der Kreislauf von Stefanos heißem Blut ist nicht der gleiche wie der von Luigis kaltem Blut (um in einem Brancati verwandten Sprachgebrauch zu bleiben). Nur, daß die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen, doch Luigi wird sein ganzes Leben damit zubringen, dies zu begreifen, er, der Theoretiker (wie Tilgher ihn nannte) des Unterschieds zwischen Leben und Form.
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