Träges Schweigen, finsteres Mißtrauen und Eifersucht .
Vom Palazzo Montoro in Porto Empedocle wird der kleine Luigi ungefähr im Alter von sieben Jahren von der Familie nach Girgenti gebracht, wohin Stefano umgezogen ist, weil er wieder einmal die Arbeit gewechselt hat.
Sie wohnen jetzt in einem grauen und ziemlich düsteren Haus in der Via San Pietro, die einen schlechten Ruf hat, einsam liegt und der Ort ist, wo Leute aus dem Milieu zusammenkommen oder sich bekämpfen. Von der Via San Pietro aus sieht man noch heute das Meer in großer Ferne, und damals, als es die neuen, eine düstere Wand bildenden Häuser noch nicht gab, konnte man ganz gewiß ein paar Häuser von Porto Empedocle erkennen, zumindest die des Ortsteils Piano Lanterna: doch im Gedächtnis des erwachsenen Luigi kehrt diese Landschaft nicht wieder, es gibt darin keine Erinnerung an ein meerisches Licht, das die Wohnung wenig düster hätte erscheinen lassen. Vielleicht lag die Rückseite der Wohnung zu einem Innenhof hinaus.
… die Straße zeigte noch die alten Umfassungsmauern mit ihren halb zerfallenen Türmen. Im ersten, notdürftig von einer farbverblaßten, kaputten Türe verschlossen, zeigte man die unbekannten Toten, und dorthin wurden auch die Ermordeten für die gerichtsmedizinische Untersuchung gebracht .
In der Nähe der Wohnung liegt die Kirche San Pietro, nach der die Straße benannt ist.
Eines Abends kommt es direkt vor der Haustüre der Pirandellos zu einer lautstarken Auseinandersetzung zwischen Männern aus dem Milieu. Ein Mann wird durch einige Messerstiche tödlich verletzt. Die Angreifer fliehen, der Verletzte bleibt auf der Straße liegen, ruft um Hilfe und jammert. Das Hausmädchen stürzt herbei und verriegelt Fensterläden und Fenster, damit der kleine Luigi nicht die herzzerreißenden, verzweifelten Schreie des Sterbenden hören muß. Kurz darauf hört man sie nicht mehr, und die Fenster können wieder geöffnet werden. An diesem Abend ist es sehr heiß.
ÜBER DAS VERRIEGELN VON FENSTERN
Wenn man die eben erzählte Begebenheit überdenkt, könnte es so aussehen, als hätten in der Familie Pirandello Gleichgültigkeit, Egoismus und Furcht, in etwas verwickelt werden zu können, geherrscht.
Der Verwundete, das stimmt, wird in seinem Todesschmerz und in seinem Tod sich selbst überlassen. Aber das Nicht-sehen-Wollen, das Nicht-hören-Wollen war das am weitesten verbreitete und durchaus übliche Verhalten der sizilianischen Bourgeoisie, ganz gleich, ob es die große oder die kleine war, und diese Haltung kann man mit den überaus einfachen Worten zusammenfassen: ›Deren Sache.‹ Aber wer sind ›deren‹? Die, die keine zivilisierten Menschen waren, ›ehrenwerte Leute‹, die ihre Angelegenheiten mit Messerstichen, Revolverkugeln oder Schüssen aus einer Lupara erledigten. Zwischen den Kriminellen, ob sie zur Mafia gehörten oder nicht, und den ›zivilisierten‹ Menschen wurde eine Mauer errichtet, eine dem Augenschein nach genau festgesetzte Grenzlinie, und die ›Zivilisierten‹ hüteten sich, darin verwickelt zu werden, sich mit Blut zu besudeln (etwa wenn sie einem Verwundeten zu Hilfe kamen), das Gewalt und Übergriffe so häufig fließen ließen.
In einem Salon ›zivilisierter‹ Menschen über Dinge zu reden, die mit der Mafia zu tun haben, ist so geschmacklos, wie während eines Galadiners über Bauchschmerzen zu reden.
›Deren Sache‹ also, und so sollte es gefälligst auch bleiben.
Zumindest dem Augenschein nach.
Denn wenn sie ein Problem hatten, das auf legalem Weg offensichtlich unlösbar war und mithin nach nicht sehr orthodoxen Wegen verlangte, hatte der größte Teil dieser sogenannten anständigen Leute durchaus keine Skrupel, über Freunde von Freunden um die Unterstützung und Hilfe des einen oder anderen örtlichen Mafiabosses nachzusuchen, der ja bestens bekannt war, weil man ihn als solchen mit Vor- und Nachnamen samt seiner Anschrift kannte.
Die Mafia, in der Öffentlichkeit hartnäckig und scheinheilig ignoriert, wurde bei bestimmten besonderen Privatangelegenheiten zur Kenntnis genommen, aktiviert und benutzt. Es ist durchaus nicht gesagt, daß diese besonderen Vermittlungstätigkeiten immer in Auseinandersetzungen mit Schüssen und Ermordungen endeten: sehr oft ›räsonierte‹ der mafiose Vermittler mit den gegnerischen Parteien, und die Macht, die er hinter sich hatte, führte dazu, daß der Verlierer, also der, der bei der Übereinkunft dazulegte, sich vor diesem ungeschriebenen Gesetz verbeugte, das allerdings strenger geachtet wurde als der Entscheid eines Schiedsmanns.
Natürlich präsentierte die Mafia, wenn die erbetene Hilfeleistung erbracht und zu einem guten Ende geführt worden war, die Rechnung, die ja nie in Geldsummen quantifiziert wurde, sondern in Gefälligkeiten, Wählerstimmen, Privilegien.
Eine perverse Verflechtung.
Aber es ist auffällig, daß Pirandello, der möglicherweise sein ganzes Leben lang dieser Handlung des Hausmädchens eingedenk blieb, in allen seinen Romanen, in allen seinen Novellen und Theaterstücken hartnäckig das Fenster vor der Mafia verriegelt hielt.
Es ist schwierig, mit der Mutter Worte zu wechseln, mit dem Vater ist es unmöglich. Doch glücklicherweise findet der kleine Luigi in der Wohnung in Girgenti eine Freundin.
Das ist das Hausmädchen, die Dienerin Maria Stella. Mit ihr kann er richtig sprechen, offen. Maria Stella ist eine junge Frau aus dem Volk und muß eine hervorragende Geschichtenerzählerin gewesen sein und erfreut sich an dem aufmerksamen, intensiven Blick ihres kleinen Schützlings.
Ein populäres sizilianisches Sprichwort hieß damals: ›La criata fa la criatura – Die Dienerin macht das Menschlein.‹
Dieses Sprichwort war doppelsinnig. Es besagte zunächst einmal, daß die Dienerin, wenn sie jung war, von einem Mann im Haus, dem Hausherrn oder auch dem jungen Herrn, unvermeidlicherweise irgendwann schwanger wurde. Danach besagte es, daß es oft die Dienerin war, die das Kind der Familie aufzog und ›heranbildete‹.
Unter verschiedenen Gesichtspunkten war es Maria Stella, die den kleinen Luigi eigentlich heranbildete.
Der Sizilianer ist nicht religiös, sondern abergläubisch. Verga, Capuana, Brancati, Sciascia haben das ausführlich dargestellt. Und es reicht, wenn wir in unserer Zeit an den Mafiamörder denken, der, obwohl flüchtig, oft den Priester in sein Versteck kommen ließ, das mit Altärchen und Heiligenbildchen ausgestaltet war.
Bestimmte religiöse Feste gehören wegen einiger Aspekte mehr zur heidnischen Seite der Sizilianer als zur katholischen. Wenn wir uns auf Girgenti und sein Gebiet beschränken, erinnern wir uns an mindestens zwei: Das Fest unseres Herrn von den Schiffen (es gibt auch einen Einakter von Pirandello, der diesem Fest gewidmet ist), das vor der kleinen Kirche San Nicola stattfindet und vor allem in einer wüsten Schlachterei von Schweinen besteht; und das Fest des heiligen Calò (das Pirandello in dem Roman Die Ausgestoßene unerklärlicherweise als Fest der Heiligen Cosmas und Damian bezeichnet).
In fast allen sizilianischen Häusern hatte der Klerus (mit dem man in toto die Religion identifizierte) eine Macht, die weit über die geistliche hinausging: sein Rat war in jeder Lebenslage gefragt, angefangen beim Kauf eines Möbelstücks bis hin zur Eheschließung.
Die Familie Pirandello war dagegen ein Stachel im Fleisch von Padre Sparma, Pfründeneigner der in unmittelbarer Nähe gelegenen Kirche San Pietro. Die Pirandellos hatten zwar ihre Kinder taufen lassen, aber sie rannten nicht in die Kirche, sie waren keine praktizierenden Gläubigen, und das reichte aus, daß die Nachbarn sie als gottlose Menschen bezeichneten. Das stimmte zwar nicht, aber die Pirandellos gehörten aufgrund ihrer Erziehung und ihrer Überzeugung zu denen, die sich zu dem Sprichwort bekannten: »Bei Mönch und Pfaffenklos / hör’ nur die Mess’! Dann gib ihm den Nierenstoß« (womit gemeint ist, daß man ihnen das Rückgrad brechen solle).
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