Die Riva Dandolo – vom Alten Hafen zur Lagune
Die Bar „ Bomben “ also ist ganz Geschäft, ganz „Heute“. Der Verkehr rollt an seinen paar Gehsteigtischchen vorüber (während das „Manzoni“ nur durch die schmale Riva vom Wasser getrennt ist). Die Tramezzini sind neuerdings, vielleicht ein Zugeständnis an burgergewöhnte Kiefer, dreistöckig. Flockenleicht vormittags in beiden Bars die warmen Croissants ( brioche ). Sogar Alice kommt mit dem Fahrrad vorbei, um sie in ihrer Bar weiterzuverkaufen.
Ihre Bar – das ist die dritte am Hafen, vielmehr die erste, weil sie Tag- und Nachtleben Grados bespielt und eine wirkliche Institution ist. Zunächst die Lage: Keine Straße stört, man sitzt am Hafen (gleich hinter dem Wassertaxistand und der Anlegestelle des Lagunen-Ausflugsbootes Christina ). Fischer verkürzen sich hier das Warten auf die mitternächtliche Ausfahrt mit cubi – schmalen Gläsern gewässerten Weins. Innen ist die Bar urig, eine Hafenkneipe eben (und als solche im Winter immer kalt, weshalb man sein Getränk gern im Stehen zu sich nimmt), fast schon eine Spelunke, in der man sich Schmuggelgeschäfte und Messerstechereien vorstellen kann. Letztere hätten dann unzweifelhaft mit Alice zu tun, Tochter des sympathischen Barbesitzers Luca, Inbegriff des „Mädchens von der Hafenkneipe“, wie aus einem Simenon-Roman. Gertenschlank, muskulöse, von der Arbeit geformte Arme und Hände, märchenhaft und doch früh vom Leben gezeichnet schön, Augen, tief wie das Meer, sehnsüchtig und traurig zugleich. Spätnachts dringt ein Lachen von ihr nach draußen, so kräftig und voll Lebenslust, dass man hineingehen möchte, um es diesem ernsten Gesicht abgewinnbar zu machen. Nicht wenige Menschenmotten lockt auch das Licht ihres Geheimnisses in diese Bar „Al Porto“, die unter den vier, fünf nachtaktiven Ausschänken der Altstadt die bodenloseste, „grenzwertigste“ ist, die immer letzte Einkehr – vor der stets letzten Ausfahrt.
Hier jedoch würde mir Alice widersprechen. Man bestelle kein „letztes“ Getränk, sagt sie. Denn was käme danach: der T.. ?! – Ähnlich wie Adriano, der Fischer, der vor der Ausfahrt um Mitternacht gerade sein cubo trinkt, abwinkt, wenn ich ihm „buona pesca“ wünsche, „guten Fang“. Das dürfe man niemals sagen! – Was dann? – „Am besten … gar nichts!“
*„E ogni díche passa e ogni ora i xe pini de luse e buona sorte.“ (Biagio Marin)
**Ein porto mandracchio bezeichnet einen Hafen, der hauptsächlich für Fischerboote reserviert ist, die wie eine mandria , eine Herde, zusammengefasst sind, um möglichst wenig Raum einzunehmen.
Und gehen
Gehen immerzu
Wohin? Keine Ahnung.
Das Leben
ist eine Brandung
sie rollt heftiger
oder schlicht.
Gehen immer …
Das Morgen
erwarte nicht.
Giovanni Marchesan „Stiata“
Via Gradenigo 1912
Ich weiß nicht, ob die alten
Erinnerungen
nur mit den Freuden
der Jugendzeit verbunden sind
oder ob es auch eine andere Lebensart gab, die zählte. *
Rino ist der sympathische Besitzer einer der fünf Gradeser Buchhandlungen, von denen nur zwei diese Bezeichnung verdienen, weil sie nicht außer Büchern auch Tabakwaren und Taucherbrillen anbieten. Rino verkauft Zeitungen, Postkarten (jeden Morgen rollt er die Ständer nach draußen auf die Viale Europa Unita **, jeden Abend holt er sie wieder herein) und Bücher. Italienische Bücher, ausschließlich, und damit hält er wirklich die Stellung als traditionellste italienische Buchhandlung des Orts, die bis vor Kurzem ausgerechnet den Namen „Cartolibreria moderna“ trug, der in altmodischen Lettern, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt weniger lesbar, über der Auslage mit den interessantesten Neuerscheinungen der letzten drei bis dreihundert Jahre prangte. Wie die Schrift über seinem Geschäft verwitterte auch Rino von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr, seine hagere Gestalt zog sich in sich zusammen, eine Gestalt, die mich in ihrem Ernst, ihrer Nervosität, ihrer Selbstversunkenheit und einer gewissen Komik, die all diesen Elementen entspringt, immer an Italo Svevo und besonders an seinen „ Zeno Cosini “ hat denken lassen.
Eine Fremdsprache spricht man nicht immer gleich gut oder schlecht. Es hängt auch vom Gegenüber ab: wie viel Vertrauen er deinem Können gibt oder wie wenig. Rino gehört von allen Italienern, mit denen ich gesprochen habe, zu denen, unter deren strengem Blick meine Italienischpotenz zusammenschrumpft wie ein Schwellkörper bei Minusgraden. So enthusiastisch und strahlend er mich begrüßt, öffne ich den Mund, senkt er den Kopf, macht die Lippen schmal, legt die Stirn in Falten und blickt mich aus seinen dunklen, belesenen Augen so forschend, so durchdringend an, dass mir der Schweiß aufsteigt und mir Wörter nicht einfallen, die ich in der zweiten Lektion gelernt habe – bis sein asketisches Gesicht einen schon fast traurigen Ausdruck angenommen hat. Jahrelang habe ich deshalb einen Bogen um seine Buchhandlung gemacht! Severo heißt „streng“, und Severino (dieser Name steht hinter der verharmlosenden Abkürzung Rino ) würde „der ein wenig Strenge“ bedeuten – „Strengchen“ vielleicht, österreichisch „Strengerl“.
Rino ist, obwohl er keine deutschen Bücher verkauft, mit einer Deutschen verheiratet, einer Schwäbin (mit entsprechend markantem Akzent), aus einem Dorf nahe Stuttgart, dem einst, höre, einer der Patriarchen von Aquileia entstammte. Ob dieser Umstand, dass Rino also damit in eine wenn auch sehr entfernte Verwandtschaft zur großen Geschichte Grados und der noch größeren Aquileias getreten ist, zu seinem Verlangen, die Schwäbin zu heiraten, beigetragen hat, wird sein Geheimnis bleiben.
Nun hat Rino heute einen Freund, Giovanni, eingeladen, um mit mir ein Gespräch über Grado, dessen Geschichte(n) und Traditionen zu führen. Eigentlich hatte ich ihn nur gebeten, mir ein wenig über seine Stadt zu erzählen, aber Rino, das hätte ich wissen müssen, nimmt Dinge, um die man ihn bittet, ernst. Der Vagheit seiner Zeitangabe und meiner profunden Kenntnis des italienischen Umgangs mit dem Begriff „Pünktlichkeit“ folgend, erscheine ich statt um „halb fünf, fünf“ um zehn vor halb sechs, was Rino veranlasst, zu einem auf der anderen Seite des Zeitungstresens stehenden Kunden „Eccolo qua!“ zu rufen. Aber es ist kein Kunde, sondern Giovanni, kleiner als Rino, gedrungen, kahlhäuptig, der seit 50 Minuten auf mich gewartet hat, im Mantel, und mir scheu, freundlich, stolz auch, die Hand gibt. Er ist als Experte geladen, als Grado-Experte, erregt in dieser Rolle und geschmeichelt, und nun stehen wir da, Rino hinter seinen Zeitungen mit leicht fieberndem Blick, Giovanni, mich erwartungsvoll anstrahlend, und ich, der ich vorschlagen will, ins nächste Café zu gehen, den Satz aber mit einem russischen Wort beginne und verstumme. Welche Fragen ich hätte, fragt Rino sachlich, wie in einem Auskunftsbüro, und da verstehe ich: Wir bleiben hier stehen. Italiener brauchen zur Kommunikation nicht notwendigerweise ein äußeres Gerüst, an dem man sich festhalten kann – ein Kaffeehaus, ein Weinglas, eine Teetasse –, das Gespräch ist das Entscheidende, und es ist hier vorgesehen, im Stehen, im Wintermantel. Den ich gleich, bevor ich zu schwitzen anfange (im Geschäft ist es warm), ausziehe, den Schal, die Mütze, die Tasche, alles lege ich ab, eine zutiefst mitteleuropäische Handlungsweise, der Skandinavier, auch der Russe wäre zuerst ins Gespräch gegangen und hätte dann erst, später vielleicht, äußeren Bedürfnissen nachgegeben, nur ich antizipiere, rational, dass sich das Geschehen auf eine halbe Stunde mindestens ausdehnen wird, und bedaure, nach der Siesta in meiner gegenwärtigen Bleibe in der Riva Dandolo zu wenig Wasser getrunken zu haben, mich auf dem Weg in eine Gastwirtschaft wähnend. Nun, stammle ich, es sei schwer, konkrete Fragen zu stellen, da nimmt mir Giovanni in voller Zustimmung das Wort aus dem Mund und beginnt einen kleinen Vortrag, den er sichtlich vorbereitet, möglicherweise gar zu Hause geübt hat, der trockene Mund verrät ihn.
Читать дальше