Der erste Spaziergang – vorzugsweise am Strand oder am von den Österreichern errichteten Lungomare , der Meerespromenade. Verwundert lässt der Reisende die Pullover fallen. Gegen die Eiswelt seiner Heimat, die er heute Morgen verlassen hat, ist hier am Nachmittag schon Sommer – obwohl in manchen Gesichtern noch Winter steckt. Die Sehnsucht nach Grado ist immer auch die Sehnsucht nach Beschaulichkeit. Ein Gefühl, sich selbst wieder „zurückzusetzen“, wie man das bei Computern selbstverständlich macht, bei sich aber gerne vergisst. Überhaupt streicheln wir uns selbst viel weniger als unsere Smartphones. Grado übernimmt das gerne. Wir können wieder lernen, was ein Meereshorizont ist (an den zu schauen die ersten Stunden schwerfällt, so hausmauer- und bildschirmverdorben sind die Augen), nach oben zu blicken und die Gedanken vom Himmel zu nehmen (wir alle haben immer so viel Himmel über uns, warum nur sind wir so bodenorientiert).
Das wirklich jedesmal Staunenmachende ist, dass alles wieder da ist: die Luft, das Licht, die Stimmung, die Geräusche und die Stillen, die Häuser und die Horizonte, und alles zugleich dich anspringt, aufnimmt, integriert, als wärst auch du nie weg gewesen, als hättest du nur einen Tag verschlafen nach einem herrlichen Rausch oder einer heftigen Bootstour. Es ist so wichtig, an einen Endpunkt zu reisen, an dem es, mit den uns vertrauten Mitteln, nicht weitergeht. Man „fällt hinunter“ nach Grado – und sie fängt uns auf mit ihrer Wärme, ihrer Milde, vor allem der Österreicher erfährt hier – auch historisch – einen süßen Schauer des Heimkommens. Nach einer längeren Abwesenheit und einer mehr oder weniger beschwerlichen Anreise kannst du diesem Ansturm des Schönen nicht anders standhalten, als dich niederzulassen (auf deine Knie, wenn du deiner Empfindung wirklich entsprechen willst und es dir nichts macht, wenn die Möwen dich auslachen, aber das tun sie immer) und zu warten, bis dein Herz, deine Augen, all deine Sinne und durch sie (oder vor ihnen?) deine Seele dieses schrecklich süße Gift in sich aufzunehmen bereit sind – denn das geht nur tröpfchenweise, so verstopft sind deine Schönheitsrezeptionsporen vom Hässlichkeitsstaub deines Alltags, deiner Arbeit, deines falschen, weil zu nördlichen, deines allzu mitteleuropäischen Lebens. Vieles fällt ab, vieles relativiert sich. Schon in den ersten Minuten.
Und es ist, am Ende des Golfs von Venedig verweilend, der sich da an Triest und den istrischen Karst verliert, so, wie Grillparzer es am nicht weit entfernten Markusplatz empfunden hat: „Wer hier sein Herz nicht schlagen fühlt, hat keines.“
*„ Poi, ecco, si spalanca una grande occhio celeste, e tu rimani con l’anima aperta, e sorridi come in sogno all’incantesimo.“ (Biagio Marin, „L’isola d’oro“)
*„Und wirklich, was war, ist ganz da – und dein Herz springt auf.“
**Die römische Bernsteinstraße verlief ebenfalls hier, von Carnuntum an der Donau bis Aquileia, wo das aus dem Baltikum kommende Bernstein verarbeitet und weiter auf die Märkte Roms und anderer Städte des Reichs gebracht wurde. Aquileia verband so das Meer des Nordens mit dem des Südens. Die Bernsteinstraße war eine Art antike Autostrada del sole , auf der auch Gold, Silber, Felle, Tiere und Sklaven transportiert wurden.
*Assoziationen zu „Grat“ (Berggrat, Einsamkeit, dünne Luft, klare Gedanken); „Grad“ (der Fieberkurve des Thermometers im Sinn von extremen Temperaturen nach unten und oben); sono in grado heißt „ich bin in der Lage“; sono a Grado: „ich bin in Grado“; a Grado sono in grado: „in Grado bin ich in der Lage“; andare per gradi: „schrittweise vorgehen“; al massimo grado : „im höchsten Grade“; der Wein misst sich im grado alcolico; und ein schöner poetischer Ausdruck für „gerne“ ist di buon grado.
* „Làdove la terra s’affonda con infinita dolcezza.“ (Biagio Marin)
*Damit ist aber keineswegs „öde“ im heutigen Sinn, also „langweilig“, zu verstehen. Thomas Mann schreibt im „Tod in Venedig“ von der „ungeheuren Scheibe des öden Meeres“. „Öde“ wurde also vor rund hundert Jahren im Sinne von „leer“ verwendet.
1Mercato ittico (Fischmarkt)
2Trattoria „Al Pescatore“
3Osteria „Zero Miglia“
4Bar „Manzoni“
5Bar „Bomben“
6Bar „Al Porto“
Und jeder Tag, der vergeht, und jede Stunde
sind voll von Licht und guter Bestimmung. *
Die unbekannteste unter den sehenswerten Straßen Grados ist wohl die Riva Dandolo. Unbekannt, weil sie „nirgends hinführt“, sehenswert, weil sie die Straße der Fischer ist. Hier laufen sie aus und ein, löschen ihre Fracht und verkaufen sie am mercato ittico (Fischmarkt), putzen ihre Netze und präparieren ihre Boote für die nächste Fahrt. Das „Al Pescatore“ ist das authentischste Fischlokal der Insel, nicht nur wegen seiner Lage. Die Osteria „Zero Miglia“, schon fast am Ende der Uferstraße, kocht köstlich – wenn auch prätentiöser und teurer. An zwei Wochenenden im Juli und August gibt die Cooperativa pescatori in der Riva ihre traditionelle sardelada: Die Seefahrer selbst kredenzen allerlei Frittiertes mit Polenta, Wein und Bier, das Volk schmaust mit den Fischerfamilien an Holztischen. Eine Atmosphäre, die man nicht vergisst.
Die Riva Dandolo, die nach der noblen venezianischen Familie Dandolo, die vier Dogen und einen Patriarchen von Grado gestellt hat, benannt ist, heißt vorher, am stadtseitigen Anfang des Hafens, Riva San Marco und beherbergt die Bar „Manzoni“, die friedlichste der den porto mandracchio **beherrschenden Bars. Da dessen östlicher Teil den Gästebooten vorbehalten ist, trifft man viele deutschsprachige Besucher. Die Bar „Manzoni “ hat eine recht frühe Morgen- und die längste Abendsonne und macht Tramezzini im alten Stil. Ich sehe nun schon die dritte Besitzergeneration, und es ist, von Opa zu Tochter und von Tochter zu Enkelin, ein Temperament und ein Gesicht, eine Freundlichkeit und eine Ruhe.
Anders die Bar „Bomben“ gegenüber. Auch, dass die Frühsonne hier bald weicht, macht, dass sie der Treffpunkt der Tagesbevölkerung ist. Das Gradeser „Stadttheater“ wird nämlich von verschiedenen Darstellergruppen bevölkert, die alle ihre „Auftrittszeiten“ haben und gleitend ausgetauscht werden. Nach den Joggern und Strandläufern am frühen Morgen, zwischen die sich vereinzelte Hunde mit Menschen an der Leine und Radfahrer mit panini im Gebäckkorb mischen, übernehmen die Rentner das Regiment. Sie stehen nicht, wie am Nachmittag, wo sie ihre zweite Dienstschicht haben, im Freien zusammen, sie sitzen in den Bars und verhandeln das Weltgeschehen der letzten 12 Stunden und 62 Jahre. Die Männer haben ihre Bars, die Frauen ihre. Wo es sich vermischt, wird gebalzt und gescherzt wie ehedem. Um neun gehen sie auseinander, als hätten sie eine Arbeit erledigt, und verschwinden in ihren Häusern bis zum nächsten Auftritt. Neun bis zehn, das ist die Stunde der Hausfrauen und jungen Mütter, die am Weg von den Geschäften und Kindergärten sehr ausgiebigen Halt in der Bar „Bomben“ machen, um mit Freundinnen zu plaudern – was eher so aussieht und sich anhört, als würden sie die Welt einmal komplett zerlegen und wieder zusammensetzen, wobei sie, auch wenn es eine Stunde dauert, winters ihre warmen Jacken und Mäntel nicht ablegen, wie um die Sprunghaftigkeit des Cafébesuchs zu betonen. Vor zehn wird es laut im Ort, als sprängen die Ohren auf. Man hat die Touristen auf die Straße getrieben, wie müde Fliegen fallen sie angegessen und angeschlagen aus ihren unterkühlten Frühstückssälen. Und so geht es weiter …
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